Mittwoch, 1. Februar 2012

Von Nullen und Einsen

2006 war das Informatikjahr - 2005 war nämlich das Einsteinjahr; und obwohl jeder das Bild von Einstein mit der rausgestreckten Zunge kennt und zu glauben weiß, dass alles relativ sei - bringt mit der Informatik niemand eine Heilsfigur oder einen Allgemeinplatz in Verbindung. Also musste eine Werbekampagne für die Informatik her.

Die Träger ließen einheitliche Etiketten entwerfen, die auf "dank Informatik" endeten. Bei uns an der Uni tauchten daraufhin Aufkleber mit den Sprüchen "Ich bin eine Null - dank Informatik" und "Ich bin eine Eins - dank Informatik" auf. Sie kleben heute noch an den Türen.

Ob "eine Null" oder "eine Eins" sein in der freien Wildbahn vielleicht einen abschätzigen oder achtungsvollen Beigeschmack hat, interessiert den Informatiker nämlich nicht. Wir sind begeistert von der Informationsmenge, die sich mit einer Stelle darstellen lässt: das sind bei einem Bit genau zwei Zustände. Die müssen sich unbedingt unterscheiden - sonst wäre die Informationsmenge nämlich leer! Aber besser oder schlechter ist keiner von beiden Zuständen. Daher ist es egal, wie wir sie nennen. 1 oder 0. An oder aus. Ja oder nein. Wahr oder falsch. Mann oder Frau.

Mann oder Frau? Ja, das wäre eine schöne Welt, wo Männer und Frauen ihre Unterschiede nicht mehr verleugnen, sondern als einen Wert betrachten würden. Ich will das veranschaulichen.

Mit Bits (also Stellen, die 1 oder 0 sein können), kann man Zahlen ausdrücken. 00 bedeutet dann null, 01 bedeutet eins, 10 bedeutet zwei, 11 bedeutet drei usw. Jetzt könnte jemand fordern, dass in jedem Ausdruck genausoviele Einsen wie Nullen stehen müssen. Oder dass in jedem Ausdruck nur Einsen, nur Nullen oder nur #-Zeichen stehen dürften. Oder dass man 10 genauso oft als 01 schreiben sollte. Das mag irgendeiner Logik folgen, aber der Grund, warum Zahlen überhaupt existieren - nämlich einen Wert darzustellen - ginge verloren.

Wo ist also das Problem, wenn 95% der Informatiker männlich sind? Oder 95% der Kindergärtnerinnen weiblich? Gleichberechtigung ist keine 50%-Quote, Gleichberechtigung macht Menschen nicht austauschbar, Gleichberechtigung verlangt nicht, dass jeder alles macht. Gleichberechtigung ist die Freiheit des Einzelnen, an den Platz zu gelangen, der seinem Wert entspricht, den er in die Gesellschaft einbringen kann.

So macht aktuell eine Studie von J.L. Luby et al. die Runde, welche titelt, dass mütterliche Zuwendung in frühen Kindheitsjahren zu größeren Hippocampi (Gehirnstrukturen) führen, was mit besserer Stressbewältigung und besserem Gedächtnis in Verbindung gebracht wird (DOI). 97% der Fürsorgepersonen in der Studie waren zwar Mütter, doch die Studie sagt ausdrücklich, dass dasselbe Ergebnis mit Vätern, Großeltern usw. als Fürsorgeperson zustande gekommen wäre. Warum schreiben dann alle Nachrichtenagenturen voneinander ab, dass es die mütterliche Fürsorge ist, die sich positiv auswirkt? (Z.B. hier.)

Wahrscheinlich ein - nicht Freudscher, sondern genderischer Verschreiber. Die Realität (auch dieser Studie) zeigt: Es finden einfach mehr Frauen als Männer ihren Platz als Fürsorgepersonen für Kinder. Das ist ein Fakt, das ist also normal, und das schlägt selbst in Agenturmeldungen durch, wenn grad mal keiner an politische Korrektheit denkt, weil das Thema ein ganz anderes war. Wunderbar!

Wir wären als Gesellschaft viel weiter, wenn wir den Wert von Unterschieden begreifen und nutzen würden, statt ihn zu bekämpfen.

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Montag, 28. November 2011

Finale Entscheidung unterm Baum

Wie jetzt? Habe ich wirklich gerade gehört, Weihnachten würde unter dem Baum entschieden?

Also allen Ernstes, ihr Marketingfuzzies macht mir nicht weis, dass der Erfolg eines Festes der Christenheit, oder - für die Atheisten unter uns - eines Festes der Familie und des Friedens nur davon abhängt, welche teuren technischen Gadgets ohne zusätzlichen Nutzwert ich eurem Laden abkaufe, nur weil sie gerade hype sind.

Sind wir wirklich schon so materialistisch, dass ich mich dreckig fühlen soll, weil ich meinem Kind keinen Tablet PC kaufe?

Eigentlich wollte ich mir tatsächlich sowas zulegen - einen e-book reader - aber das fällt jetzt aus. Ah, alles fällt aus. Die Zeit, die ich nicht arbeiten muss, um sinnlosen Kram zu bezahlen, und die ich nicht in der Gegend herumirre, um ihn zu kaufen, werde ich dieses Jahr überall nutzen, nur nicht unterm Baum.

Ich werde Leute anrufen, mit denen ich schon lange nicht mehr telefoniert habe.

Ich werde meine Freunde zu einem 5-Gänge-Menü einladen und zwei Tage lang kochen.

Ich werde meine Eltern besuchen, mit meiner Mutter jeden Abend ein Glas Rotwein trinken (oder zwei) und mit meinem Vater im Frost (hoffentlich!) durch die Auen wandern.

Ich werde endlich "Die letzten Mohikaner" (sic!) im Original lesen.

Ha! Keinen Mann und keine Mark - ich meine, keine Minute und keinen Euro für Euch Leichengräber der Menschlichkeit! Mein Weihnachten wird sich höchstens dann unterm Baum entscheiden, wenn im Wald einer umbricht und mir den Schädel zerschlägt.

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Dienstag, 6. September 2011

Scheinlob der Zuverlässigkeit

Ist Ihnen mal aufgefallen, dass eine Menge von Adverben eine positive Konnotation haben, nur, weil ihnen die Masse der Normalos einen falschen Sinn unterschiebt?

Hier ein Beispiel: Zuverlässig. Von den Normalos wird dieses Wort positiv belegt - sie schreiben es alle in ihre Bewerbungen. Auch jeder Aspie würde dieses Wort voller Überzeugung in seine Bewerbung schreiben, nur wäre man von ihm im Nachhinein wohl schwer enttäuscht. Warum?

Weil ein Aspie auf einer anderen Ebene zuverlässig ist als ein Normalo. Für Normalos bedeutet Zuverlässigkeit die Kontinuität des Handelns. Ein Motor ist zuverlässig, wenn er immer läuft. Ein Arbeiter ist zuverlässig, wenn er seine Aufgaben immer erfüllt. Ein Land ist zuverlässig, wenn es immer in denselben Krieg zieht wie die USA.

Als Aspie mag ich in diesem Sinn zuverlässige Dinge sehr. An Menschen und menschliche Institutionen stelle ich jedoch andere Ansprüche. Statt der Kontinuität des Handelns sollte den Menschen eine Konsistenz der Werte und Entscheidungen als zuverlässig beschreiben.

Denn es nützt nichts, wenn der Mensch nur immer dasselbe tut. Wenn Sie jemandem Ihr ganzes Erspartes anvertrauen müssten, und sie haben zwei Menschen zur Auswahl: einen, der immer dasselbe macht, und einem, der stets denselben moralischen Prinzipien folgt. Wenn nichts passiert, bekommen Sie ihr Geld von dem einem genauso wieder wie von dem anderen.

Lassen Sie nun eine unvorhergesehene Situation eintreten, die das Handlungskontinuum zerstört. Sagen wir, Ihr Treuhänder wird überfallen und ausgeraubt. Dann sagt der Erste: "Das war eine noch nie dagewesene Situation und nicht meine Schuld", hat damit recht, uns Sie sind Ihr Geld los. Wird der zweite um Ihr Geld beraubt, wird so lange arbeiten, bis er Ihnen das Anvertraute zurückzahlen kann, obwohl er das weder vorhergesehen noch geplant hat.

Wenn Sie mit der Reaktion des Zweiten nicht gerechnet haben, dann nur, weil Sie die Werte Ihres Kumpels nicht kannten. Aber machen solche Werte nicht unsere Überlegenheit über so etwas Unbelebtes wie einen Motor aus? Schon, aber dafür interessieren sich Normalos leider nicht. Hier ist mein Artikel über das Handgeben. Der Normalo ist glücklich, wenn es immer funktioniert (zuverlässig auf der Handlungsebene), der Aspie ist glücklich, wenn er die richtige Entscheidung trifft (zuverlässig auf der Werteebene).

Kennen Sie noch mehr Worte, bei denen sich Aspies und Normalos wohl nie verstehen werden?

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Montag, 15. August 2011

Die zufällige Welt

Aspies wundern sich immer wieder über die Selbstverständlichkeit, mit der die Normalos ihre Welt für das Maß aller Dinge halten und nicht hinterfragen. Nehmen wir so Dinge wie das Händeschütteln beim "Guten Tag".

Haben Sie sich mal gedanklich neben so eine Begrüßungsszene gestellt und von der Seite zugesehen, wie sich zwei erwachsene Leute bei den Gliedmaßen packen, um sie zu schütteln? Es ist völlig irrsinnig. Man sagt, früher habe die Geste sichergestellt, nicht im nächsten Augenblick vom Dolch des Gegenübers durchstoßen zu werden - was bei einem Linkshänder schon mal nicht funktioniert (siehe die biblische Anekdote über Ehud). Und wofür brauchen wir das heute? Darüber hinaus kann das Handnehmen und -geben überaus peinlich und unangenehm sein (Schweißhände; eingecremte Hände, unabgetrocknete Hände). Außerdem ist es unhygienisch, wenn man gerade in die Hand geniest oder was-weiß-ich unaussprechliches damit getan hat, z.B. die Edelstahlstange an der Schwingtür zum Karstadt angefasst, wie schon hundert Leute zuvor.

Stellen Sie sich vor, ich gehe zum Bewerbungsgespräch und sage auf die ausgestreckte Hand des HR-Chefs, dass ich sie nicht nehme, weil es sich dabei um ein anachronistisches Ritual handelt, das sinnfrei und zudem unhygienisch ist. Ich hätte wissenschaftlich von allen Seiten recht, aber die Stelle bekomme ich nicht. Hilfe, ein Freak! Normalos akzeptieren höchstens Leute, die sich über die Selbstverständlichkeiten der Welt ironische Gedanken machen. Niemals jedoch jemand Konsequentes, der das Gedachte umsetzt.

Dabei stört mich als Aspie nicht so sehr die Sinnfreiheit vieler heute verlangter sozialer Interaktionen, sondern die Zufälligkeit, auf der ein großer Teil unserer heute existierenden Gesellschaft basiert. Nehmen wir ein Beispiel: Vielleicht haben Sie schon das Wort "Weltliteratur" gehört, das ist angeblich das, was Shakespeare, von Goethe oder Tolstoi geschrieben haben; ähnliches könnte man in der Musik von Bach und Beethoven sagen oder in der Malerei von da Vinci, Michelangelo und Rembrandt. Das sind unsere Standards.

Ich will mich gar nicht darüber auslassen, dass diese Standards nur einen Bruchteil der Weltgeschichte gelten und auch nur einem Bruchteil der Weltbevölkerung etwas bedeuten. Schlimmer: Die Existenz dieser Geister war zufällig. Sie hätten genausogut nicht leben oder nichts produzieren können, und dann säßen wir heute ohne gewisse Symphonien, Fausts und Giocondes da. Diese Werke mussten nicht notwendigerweise entstehen, das beweist die Geschichte, die sonst noch viel mehr ebenbürtige Werke vorzuweisen hätte. Hätten statt ihrer andere Geister gelebt, gäbe es heute andere Standards in der Musik, andere ehemalige Länder der Dichter und Denker, andere Attraktionen im Louvre.

Ist das nicht beängstigend, dass die ganze Geschichte dieser Welt, die uns anders vorzustellen wir enorme Schwierigkeiten haben, von der zufälligen Existenz und Handlung einzelner Personen abhängt? Der Aspie sagt ja und nimmt daher diese zufällig aufgebaute Welt für alles andere als notwendigerweise so existierend auf, ist bereit, die heutige ohne weiteres über Bord zu werfen, wenn sich eine bessere ergäbe.

Aber wenn wir uns schon dem Händeschütteln nicht entziehen können - welche Chance gibt es dann für tiefgreifendere Veränderungen?

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Montag, 20. Juni 2011

Nutzen Sie die Abwesenheit der Inquisition

Ich wohne ja im Bundesland der Autoerfinder. Das ist natürlich Zufall, und ich habe den Tüftlern von damals keinerlei Beitrag geleistet. Umsomehr erstaunt mich nun die Frechheit gewisser heutiger Interessensvertreter und die Naivität derer, die ihre Argumente ernstnehmen und weitertragen.

Ich überlege mir gerade, wie vor 125 Jahren jemand argumentiert hätte: „Es ist falsch, an der Entwicklung des Automobils zu arbeiten, denn

  1. Es gibt keine asphaltierten Straßen und Autobahnen: wo soll das Auto also fahren?
  2. Das Auto macht den Transport teurer, weil Benzin teurer ist als Hafer
  3. Zuchtpferde sind auf absehbare Zeit schneller als Autos, lasst uns lieber die Pferdezucht intensivieren
  4. Ein deutscher Sonderweg ist sinnlos; die Franzosen erfinden ja auch grad kein Auto

Lächerlich, oder? Deswegen finde ich es auch heute so frech zu behaupten – und so naiv zu glauben – dass der Umstieg auf erneuerbare Energien soooo unmöglich sei, weil es keine entsprechenden Stromleitungen gebe, erneuerbare Energien teurer seien, man als Ingenieurland lieber die Atomkraft perfektionieren sollte und ein nationaler Ausstieg eh sinnlos sei.

Dann baut halt die Leitungen; die bisherige Vernachlässigung der Infrastruktur kann man wohl nicht den erneuerbaren Energien anlasten. Im Gegenteil wird durch die Ansiedlung der Energiewirtschaft im Norden und den Transfer in den industrialisierteren Süden endlich ein Beitrag zum Ausgleich des Nord-Süd-Gefälles geleistet.

Auch kann ich mich nicht erinnern, dass die Konzerne die Preissteierungen, die bisher nicht minder zu verzeichnen waren, an die große Glocke gehängt oder ihrem Erzeugungsmodus zugeschrieben hätten.

Noch viel verwerflicher finde ich als Forscher die Aufforderung, lieber an den unberechenbaren Folgen einer homoziden Technologie herumzutüfteln, als an wegweisenden Innovationen zu arbeiten, die auch für Entwicklungsländer keine unüberwindbare technologische Hürde mehr darstellen und dazu auch kein Missbrauchspotential mehr haben.

Und zu guter letzt sagt einem schon ein mathematisches Grundverständnis, das jede eliminierte Gefahrenquelle ein Sicherheitsgewinn ist, ganz abgesehen von den positiven psychologischen Begleiterscheinungen.

Ich bitte Sie, wir leben nicht mehr im Mittelalter, und die Inquisition ist lange her. Es bedarf keines Bruno oder Galilei mehr, um nüchterne Wahrheiten gegen interessengetriebene Scheinargumente aufzustellen. Tun Sie es also!

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Mittwoch, 9. März 2011

Die neue Herrenrasse

Ich weiß nicht, was Sie gerade gegessen haben, aber es sollte Ihnen gleich wieder hochkommen bei dem schlechten Scherz, der an diesem Faschingsdienstag gespielt wurde. Nein, es geht nicht um Guttenberg und nicht um Gaddafi - das sind nicht mal Randnotizen im Vergleich zu dem, was Sie in Kürze in Deutschland und der restlichen "ersten Welt" erleben werden.

Doch der Reihe nach. Sie haben vielleicht die Diskussion um die Tigermütter mitverfolgt. Das ist die Spezies, die ihren Kindern von Anerkennung über Freizeit und Liebe alles Menschliche verweigert und sie stattdessen von klein auf wie rücksichtslos zu perfektionierende Leistungserbringer behandelt.

Ich habe mich dabei zuerst gefragt, warum wir eigentlich immer in Extreme fallen müssen? Gerade ist noch die antiautoritäre Erziehung der 60er und 70er, in der noch jede Beeinflussung des kindlichen Charakters zur Vergewaltigung erklärt wurde, stark verwässert in Form des Klapsverbots ins BGB hinübergehallt (ins BGB!), da erscheint vor unseren Augen eine Armee von Eltern, rührungslos wie Terrakottasoldaten, die schon ihre Ungeborenen im Mutterleib mit Fremdsprachen beschallen, von kleinen Rotznasen Perfektion am Geigen- wie am Sportbogen verlangen, und die ihre Teenager, um die sich die Pubertät drückt wie das Rind ums Bolzenschußgerät, nur auf Eliteunis mit integrierter Doktorwürde akzeptieren können, oder besser noch im Vorstand eines Fortune-500-Unternehmens.

Ich möchte laut aufschreien beim Anblick dieser Zombies, die mir schon heute, meist asiatisch, mitternachts in der Uni im Delirium vor die Füße taumeln und mir Bewerbungen mit Zitaten deutscher und amerikanischer Philosophen schicken. Diese Tigermuttererziehung, das gilt es klar zu sagen, hat nichts mit der Vermittlung von Arbeitsethik zu tun, oder von Normen, oder gar von Tugenden. Diese Kinder lernen nicht, weil sie Wissen schätzen. Sie arbeiten nicht, weil sie Anstrengung für richtig halten. Sie ehren nicht, weil sie einschätzen könnten, wem Ehre gebührt. Mit ein bisschen Rückblick aufs vergangene Jahrhundert kann man getrost sagen, dass hier die neue Herrenrasse geschaffen werden soll: Eine gegen sich und andere rücksichtslose, jedem Gefühl abholde, keine Imperfektion verzeihende Masse an funktionierendem Menschenmaterial.

Nun, das mag weit hergeholt klingen. Sicherlich hat die heutige Welt solchen rastlosen, "unmenschlichen" Geistern wie Alan Turing, Kurt Gödel, Albert Einstein, Karl-Friedrich Schinkel, Friedrich dem II. oder Napoleon Bonaparte (um nur mal die neuere Geschichte zu streifen) viel zu verdanken, auch wenn die Liste ihrer Verdienste durchaus durchwachsen ist. Ohne sie hätten wir heute vielleicht eine ungeknackte Enigma, keine Atombombe, kein GPS, keine allgemeine Schulpflicht, keine Kartoffeln oder kein BGB. Doch als Menschen waren diese Leute nicht zu gebrauchen, und sie sind dankenswerterweise Einzelfälle unter den paar Milliarden Menschen, die die Erde bisher gesehen hat.

Heute geht es aber nicht darum, die Genies ihre Sache machen zu lassen, sondern Kinder mit aller Macht in eine künftige Leistungselite mit reserviertem Platz an der Sonne einzugliedern. Wenn Sie beim Wort "Herrenrasse" oben ans Dritte Reich gedacht haben, sind Sie schon auf dem richtigen Dampfer. Genau darum geht es: die Kinder an dem kleinen Kuchen der Weltbeherrschung teilhaben zu lassen und sich selbst in der Mutterschaft der Übermenschen zu sonnen. Dass das keine Hirngespinste sind, zeigte der heutige Tag.

Heut ist der deutsche Ethikrat zum Schluss gekommen, dass Präimplantationsdiagnostik nicht abzulehnen sei. Ich will darüber gar nicht diskutieren, sondern weiterdenken. Wissenschaftliche Fortschritte gibt es nämlich in einem benachbarten Gebiet: der Pränataldiagnostik. Dabei wird einer Schwangeren Blut abgenommen, Bruchstücke des Fötus-Genoms daraus extrahiert und dann kann's losgehen. Trisomie 21 (Down-Syndrom)? Feststellbar. Diabetes? Rot-Grün-Blindheit? Blaue Augen? Blonde Haare? Alles da, und ohne Aufwand oder Risiko für den Fötus (zumindest nicht gleich). Bald können Sie den Test in der Apotheke oder zu Hause machen.

Es bedarf keiner besonderen Begabung um vorherzusehen, was folgt. Als Schwangere werden Sie diesen Test haben müssen, zuerst so sehr, wie man ein iPhone braucht, und später so sehr, wie eine ostdeutsche Friseurinnenazubine einen zwei Tageslöhne teuren Personalsausweis haben muss. Keine Krankenkasse wird Ihnen Therapien für ein behindertes Kind bezahlen, nur weil Sie die Diagnose abgelehnt haben oder trotz Diagnose nicht abgetrieben haben. Und wenn man in Ihrem Blut nebenbei eine Erbkrankheit entdeckt, brauchen Sie sich gar keine Illusionen machen, je eine Geburtsklinik nochmal von innen zu sehen. Während die ganze Entwicklung auf dem Egoismus der Designereltern basiert, perfekte Elitekinder zu haben, wird man den Spieß umdrehen und Ihnen Ihren Egoismus vorhalten, der Volksgemeinschaft ein nicht ganz so perfektes, durchschnittliches oder, Gott behüte, gar behindertes Kind aufzubürden. Stupide Elternpietät. Wir leben im 21. Jahrhundert und müssen unsere Wünsche und Gefühle, unser Leben und unsere Kinder den großen Visionen der Weltfortentwicklung opfern.

Es ist wirklich eins zu eins dieselbe Ideologie wie im Dritten Reich. Nur, dass die Nazis nicht die ersten und nicht die letzten damit waren. Und dass Lebensborn, Aktion T4 und Gestapo bei allem Entsetzen nur lächerliche Dilettantenstücke waren im Vergleich zu dem gnadenlosen Fortpflanzungs-, Bildungs- und Leistungsfaschismus, in dessen gesellschaftliche Zwänge die Schwellen- und Industrieländer wohl noch vor den Ländern der Dritten Welt geraten werden. Und leider ist es auch schwieriger, den Feind zu erkennen. Auf welchen Hitler müsste Stauffenberg heute ein Attentat planen, welche Enigma gilt es heute zu entschlüsseln, welches OKW müsste man heute zur Kapitulation zwingen?

Und was, wenn wir es nicht tun? Was wird passieren, wenn sich die perfekten Heere von Pakistanis, Israelis, Chinesen und Inder im Kampf um Lithium, Erdöl, Sojabohnen, Fisch, Wasser und den Kosmos gegenüberstehen? Wird jeder von ihnen alles, was er beherrscht - seine 10 Sprachen, seine diplomatische Verhandlungsführung, seinen physikalischen, geographischen, geschichtlichen Sachverstand - einbringen, um in einer entspannten Gesprächsrunde Friede, Freude und Eierkuchen herbeizuführen? Oh, oh.

Meine Güte. Bei der Forschung in der Informatik kommt man ja auch vor ethische Probleme (Schnüffelprogramme schreiben? Software für die Kriegführung entwickeln?). Aber was man die Humangenetiker da gerade lostreten lässt, ist echt eine Nummer zu groß.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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Montag, 24. Januar 2011

Über digitale Analogien

Haha, da hat ein Informatiker einen „digitalen Radiergummi“ vorgestellt, mit dem man die freizügigen Fotos von seinem letzten Vollabsacker aus dem Internet löschen kann ... herrlich, sage ich Ihnen!

Nein, da verlinke ich jetzt nicht drauf. Ich bin mir sicher, dass der Kollege da grad eine Satireveranstaltung abzieht und seinen staatlichen Auftraggebern unverholen den Allerwertesten zeigt für ihre Naivität, so ein hirnverbranntes Projekt überhaupt in Betracht zu ziehen und in Auftrag zu geben.

Leute, ich weiß, es ist schwer, aber bitte-bitte: Stellt Euch bitte nicht so an und hört endlich auf, Phänomene in der digitalen Welt mit analogen Analogien beschreiben und bekämpfen zu wollen. Das ist im besten Falle sinnlos, im peinlichsten Falle lächerlich, und im schlimmsten Falle gefährlich.

Gefährlich, weil es die Menge der Bevölkerung im Glauben lässt, sie sei den Anforderungen des Internet gewachsen, wenn sie nur ihre bisherige Chuzpe nicht verliert. Das ist falsch!

Zum Beispiel hat diese fehlende Einsicht bisher eine konsistente Regulierung des Internetrechts staatlicherseits verhindert. Bisher schwanken Legislative und Exekutive zwischen zwei Extremen: dem laisser-faire und der absoluten Kontrolle. Das ist so, als würde man jeden ohne Altersbegrenzung oder Fahrerlaubnis mit dem Brummi durch die Dörfer jagen lassen, andererseits aber von allen Ihren Bewegungen einen GPS-Track anlegen und speichern lassen, damit man Ihnen am 90. Geburtstag noch nachweisen kann, wie Sie Rüpel als Teenie mal am Stoppschild nicht angehalten haben.

Ich finde aber, dass das dem Staat gar nicht anzulasten ist, solange die Bürger, die er repräsentiert, noch nicht reif genug sind, um mit dem Internet umzugehen.

Wie ist das so mit Ihnen?

Hinterlassen Sie schlecht überlegte Frotzeleien im Kommentarbereich von Heise oder GMX? Laden Sie Ihre Nacktfotos auf Picasa? Kopieren Sie ihre Hausaufgaben oder Zeitungsartikel von fremden Quellen? Erzählen Sie auf Livejournal über ihre Selbstmordfantasien? Schenken Sie Facebook alle ihre persönlichen Daten, Freundschaften und Vorlieben? Erzählen Sie Google über die Suchzeile alles, was Sie interessiert? Erzählen Sie über Twitter der ganzen Welt, dass Sie grad nicht zu Hause sind?

Nein? Glückwunsch. Es gibt eine Chance, dass Sie sich im Internet ganz gut zurechtfinden.

Auf diejenigen, die nach einem digitalen Radiergummi schreien, trifft das offenbar nicht zu. Sie leben wohl in einer Art Traumwelt, wo man mit dem Auto vorsätzlich zehnmal in die Leitplanke fahren kann und das ganze dann mit Strg+Z wieder rückgängig machen kann, sobald man das nicht mehr lustig findet. Auf sowas kann man eigentlich nur mit einer Verhöhnung antworten wie mein Kollege aus Saarbrücken.

Allerdings muss ich hier noch was einschieben. Wenn ein Arbeitgeber einen Bewerber wegen im Internet dokumentierter Entgleisungen am Wochenende nicht einstellt, oder Journalisten wegen vor Jahren begangener Fauxpas' bei keinem Verlag mehr einen Fuß in die Tür bekommen, dann verhält sich die andere Seite der Internetnutzer, die ihnen hinterherschnüffelt, nicht minder unprofessionell. Und zwar auf so vielen Ebenen, dass ich es hier gar nicht aufzählen kann (schreiben Sie mir, dann kommt es in die Kommentare oder einen neuen Beitrag).

Will sagen: wer das Internet als Rezipient nutzt und alles darin Gefundene auf die Goldwaage legt, obwohl er weiß, dass das Netz „nichts vergisst“, während Menschen sich weiterentwickeln --- der kann eben auch nicht damit umgehen.

Das Internet erlaubt keine Analogien. Einen kollektiven, widersprüchlichen Fundus gesamtmenschheitlicher Ansichten und Absichten, der stets und global verfügbar ist und nichts vergisst --- das gab es eben früher nicht. Wir müssen es als etwas Neues begreifen lernen und nicht versuchen, es mit Analogien in unseren bisherigen Erfahrungshorizont einzugliedern.

Nur dann haben wir eine Chance, der Geister Herr zu werden, die alle und niemand so richtig gerufen haben.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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Freitag, 10. Dezember 2010

Mehr Verantwortung!

Ich lese gerade, dass "der Datenklau durch Phishing beim Online-Banking" sprunghaft zunimmt, weil die Kunden in "ungeschützten Netzen" unterwegs seien und den Virenschutz vernachlässigen. Das LKA Sachsen findet, man brauche deswegen dringend Vorratsdatenspeicherung, und Geschädigte sollten ihren PC zum LKA bringen lassen. (via)

Aber holla. Ich sag Ihnen jetzt mal was.

  1. Da das Internet grundsätzlich ein "ungeschütztes" Netz ist, verschlüsseln ernstzunehmende Banken ihre Kommunikation (sieht man am "https" in der Adresszeile des Browsers) und authentifizieren sich mit einem Zertifikat. Es ist IHRE VERANTWORTUNG, nur mit ernstzunehmenden Banken umzugehen und das Zertifikat zu prüfen.
  2. Virenschutz kann zwar vor Trojanern warnen, die Sie beim Eintippen der Bankdaten beobachten und die Daten dann nach Russland schicken. Aber, wo haben Sie die Trojaner denn her? Ohne Ihnen zu nahe zu treten: auf diese Seiten hätten Sie nicht gehen sollen. Es ist IHRE VERANTWORTUNG, wenn Sie Ihr reales Leben vergeuden, um sich ziellos durch Foren, Google, Soziale Netze, Spiele- und sonstige Seiten zu klicken, die auch Ihre primitivsten Bedürfnisse eben doch nicht erfüllen können.
  3. Phishing umschreibt den Versuch, Sie zu überreden, Ihre Daten freiwillig herauszugeben. Wenn Ihnen Ihre Bank eine PIN schickt und verbietet, die PIN irgendjemandem mitzuteilen, dann ist es IHRE VERANTWORTUNG, nicht auf eine Mail in gebrochenem Deutsch zu antworten und es doch zu tun.

Warum stellen sich so viele Normalos eigentlich derart an, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen? Eigentlich ist jedem klar, dass er keinem Unbekannten die PIN/TAN geben darf, dass er sich nicht in zwielichtigen Gegenden rumtreiben sollte und dass man seine Geheimnisse nicht ans Schwarze Brett hängt. Wenn Sie es trotzdem tun und dafür keine Verantwortung übernehmen wollen, gibt es nur einen einzigen Ort, der Sie vor Schaden bewahren kann: eine Geschlossene Anstalt.

Genau dazu versuchen verschiedene Interessengruppen das Internet gerade zu machen. Das LKA schlägt vor, IHRE Verbindungsdaten unbegrenzt zu speichern und IHREN PC untersuchen zu lassen, wenn jemand anderes kriminell handelt. Das ist eine Entmündigung, aber sie geschieht Ihnen recht. Denn Verbrechen im Internet sind die einzigen, die Sie vollständig verhindern können, indem Sie sich einfach zu keinen Dummheiten verleiten lassen.

Und wer bereit ist, Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen, überlegt eben erst mal gut vor dem Handeln und lässt sich nicht zu Dummheiten verleiten.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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Mittwoch, 27. Oktober 2010

Ich mach' Sie reich!

Stellen Sie sich vor, Sie seien ein narzisstischer Egoist und möchten reich werden. Hier steht, wie das geht.

  1. Finden Sie eine Million Leute, die Ihnen ein paar Euro geben. Schon sind Sie Millionär.

Das geht nicht? Und ob das geht. Hier sind zwei aktuelle Fallbeispiele.

  1. Sammeln Sie die Urängste der Bevölkerungsschichten, deren Gemüter am leichtesten erregt werden. Ob die Ängste irrational sind, ist nicht entscheidend. Jetzt formulieren Sie diese Ängste um, untermauern sie mit Halbwahrheiten, beweisen sie mit Schweinwissenschaften, und verkaufen Sie dem Volk seine eigene Gefühlswelt (durch Ihren Fleischwolf gedreht) als Buch. Fertig. Umsatz des aktuellen Beispiels (bis dato): ca. 15 Millionen Euro [1]. Dazu die Einnahmen aus Lesungen. Keine Sorge, auch Leute, die nicht müssen, werden sich das Buch kaufen und Ihnen ihr Geld nachwerfen für Thesen, hinter denen Sie nicht mal wirklich stehen müssen.
    Und die depperten Konsumenten geben Ihnen Geld für etwas, was sie eh schon denken.
  2. Steigen Sie (wie z.B. Bertelsmann, Burda oder Disney) bei RTL2 ein oder werden Sie ihr Berater und installieren Sie eine Sendung, die mit "Tatort" anfängt. Inhalt: künstlich echauffierte Identitätsfälscher verleiten kranke Leute zu scheinbaren, zu vermeintlichen Straftaten, die das Volksgefühl empören, aber eben keine Straftaten sind. Fertig. Einschaltquote des aktuellen Beispiels: ca. 1,1 Millionnen Zuschaner, fast alle in der „werberelevanten Zielgruppe“ [2]. Keine Sorge also, die Werbeslots werden Sie los wie warme Semmeln.

    Und die depperten Konsumenten bezahlen Sie über die Werbung und die Produktpreise und verlieren auch noch ihre Zeit dabei.

Sie sehen, mein einer und einziger Rat, wie Sie reich werden können, funktioniert. Das einzige, was Sie gegebenenfalls abschaffen müssen, ist Ihr Gewissen. Schamlos müssen Sie lügen können, Ihnen ginge es darum, eine Diskussion anzustoßen, ein Tabu anzusprechen, Kinder zu schützen, die widerlichen Andersdenkenden unschädlich zu machen. Sie müssen so tun, als ob Sie sich selbstlos um die Lösung eines gigantischen gesellschaftlichen Problems bemühen, jeden Angriff auf Ihre Taktik als Ignoranz des Problems oder besser gleich als unmoralischen Akt darstellen, und dabei intensiv an einer Verhinderung der Lösung arbeiten. Denn nur die ausbleibende Lösung verschafft Ihnen Aufmerksamkeit, Quoten, Tantiemen, also: Geld.

Das sei ein Widerspruch: Ein Problem ansprechen und seine Lösung vereiteln? Ganz und gar nicht. Hier die mit heißer Nadel gestrickten Rezepte:

  • Teile und herrsche! Spalten Sie die Menschen in zwei unversöhnliche Gruppen und tun Sie so, als gäbe es nichts dazwischen. Pro-Guttenberg oder pädophil. Pro-Stuttgart21 oder ewiggestrig. Deutsch oder muslimisch. Nichts dazwischen.
  • Geben Sie ausgleichenden und differenzierenden Argumenten keinen Raum und stellen Sie immer nur eine Seite dar, und zwar die negative. Türken beziehen Sozialhilfe (und die türkischen Gemüsehändler zahlen Steuern), Ausländer schlagen ihre Frauen (genau wie Deutsche), Kinder werden durchs Internet vergewaltigt (wenn sie in die entsprechenden Chats gehen, dort über sexuelle Phantasien reden und Wildfremden ihre Adresse mitteilen).
  • Nutzen Sie die Gefühle und Schlussfolgerungen der Konsumenten, ohne sie direkt anzusprechen. Sagen Sie „kleines Mädchen“: jeder hat den süßen blonden Fratz mit Zöpfchen vor Augen und nicht die geschminkte Partygöre mit Brüsten, Periode und Kondom in der Geldbörse. Sagen Sie „christlich-jüdisch-abendländische Werte“: jeder denkt an Jesus und Barbarossa, an Milde, Ehre und Heldentum und nicht an Ausländerhass, Politikverdrossenheit, Altersheime, Steuerhinterziehung, Kindermangel, Bestechung, Einelternfamilien, Pharmalobby, Diktatoren und zwei Weltkriege. Die Schlussfolgerungen ziehen die Konsumenten selbst. Das arme kleine Mädchen muss man vor dem Wolf schützen und die christlich-jüdisch-abendländischen Werte vor den Sarazenen, das ist doch klar. Ein Wüstling, wer das bestreitet...

Wenn es bei Ihnen geklappt hat, schreiben Sie mir doch mal. Ich erweitere die Liste gerne um Ihren Ansatz.

Jetzt muss ich aber gehen, ein bisschen Geld verdienen... ehrlich. Reich werde ich dabei nicht.



[1] Eigene Berechnung, Quelle: Spiegel Online.
[2] Quelle: Quotenmeter GmbH .
Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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Montag, 18. Oktober 2010

Donaueschingen, oder: Wider die neue Musik

Die Donaueschinger Musiktage sind vorbei. Zeit, mal etwas über moderne Musik und Kunst im Allgemeinen zu sagen.

a
Zunächst muss ich mich offenbaren. Ich liebe klassische Musik, besonders aus der romantischen Klassik. Das heißt, mit Chopin und Schubert, mit Beethoven und Rachmaninoff, mit Verdi und Donizetti, Rossini und Bellini können Sie mich ziemlich schnell hinter dem Ofen vorholen. Bruckners siebte Symphonie. Tschaikovskys Sechste. Beethovens Dritte. Schumanns Klavierkonzert, oder Chopins Erstes, oder Brahms' Zweites. Bruchs erstes Violinkonzert. Das Finale von Bellinis „Norma“. Der dritte Akt von Cherubinis „Medea“ (oder Verdis „Traviata“ oder Bellinis „Sonnambula“)...

Entschuldigen Sie, ich bin gerade ins Schwärmen gekommen. Aber im Ernst, manchmal bilde ich mir ein, mit dieser Musik (Konserve hin oder her) mein seelisches Gleichgewicht ein bisschen wiederherstellen zu können. Deswegen gebe ich auch Geld aus dafür.

D
Dass ich mit diesem Geschmack recht allein auf weiter Flur stehe, wundert mich nicht und ärgert mich auch nicht. Musik ist eben Geschmackssache.

Und wenn Sie andere Musik brauchen, um sich auf- oder abzuregen, die Langeweile zu verjagen, Ihrer Umwelt ein „lass mich in Ruhe“ zu signalisieren, oder um kreativ zu werden ... warum nicht?!

e
Bemerkenswert ist nur eins: Sie hören Ihre Musik immer freiwillig. Freiwillig und gern. Denn sie erfüllt für Sie einen Zweck und hat für Sie einen unmittelbaren Wert.

Jahrtausende war es nicht anders. Die Schamanentänze (wenn es die denn je gab), die Dorfmusik des Mittelalters, die Tänze des Barock, die Unterhaltungsmusik der neueren Zeit sind immer komponiert und aufgeführt worden, weil es eine unmittelbare Nachfrage danach gab.

g
Aber - kein Ding, das sich nicht missbrauchen ließe.

Ich habe den begründeten Verdacht, dass die Auftraggeber Telemanns, Haydns oder Bachs die Musik aus Gründen förderten, die mit dem Gefallen an Musik nicht mehr viel zu tun hatten. Tafelmusik? Da, ich kann ein Orchester beim Essen dudeln lassen. 104 Symphonien? Seht her, ich kann einen ungeheuren Musikauswurf finanzieren. 300 Kantaten? Schaut, wie ernst wir es mit dem Gotteslob halten.

h
Ich würde das „Ersatzgründe“ für Musik nennen.

Dementsprechend ist auch die Musik nicht unbedingt das, wofür ich ein paar Stunden vor der Stereoanlage meditieren würde.

i
Aus demselben Grund finde ich auch die sogenannte „neue Musik“ so völlig überflüssig.

Nicht, dass sie keine Ziele erfüllen würde.

M
Die Generalmusikdirektoren können damit ihre Progressivität unterstreichen, Opernhäuser ihre Weltoffenheit, Konzertgeher ihre Connaissance, Orchester ihre Unvoreingenommenheit ... und nicht zuletzt verdienen ein paar spinnerte Komponisten ihre Brötchen damit. Ist ja auch nichts Neues.

Nur eines tut niemand mit der Musik: niemand würde sie sich freiwillig am Samstag nachmittag in die Stereoanlage legen und sich ein paar Stunden davon berieseln lassen.

n
Warum?

Weil die neue Musik nicht mehr ihren primären Zweck erfüllt - die innere Saite des Menschen anzuschlagen - sondern nur noch Ersatzziele verfolgt.

r
Nur als Beispiel: Jahrhunderte hat man Klaviere und Violinen weiterentwickelt, damit sie beim Anschlag mit dem Hämmerchen bzw. dem Strich über die Saiten den angenehmst-möglichen Klang erzeugen. Parallel dazu hat die Harmonielehre die angenehmsten Kombinationen und Entwicklungen von Klängen herauszufinden gesucht. (Und der gute alte Pythagoras hat die mathematische Grundlage dafür gelegt).

Und daher, liebe Protagonisten der neuen Musik, ist es auch so affig, einen Pfeil aufs Cello zu schießen, Kronkorken zwischen die Flügelsaiten zu stecken, auf den Resonanzkörper der Violine zu trommeln, eine Säge als Instrument zu bezeichnen oder unbedingt alle 12 Töne der Tonleiter zusammenkomponieren zu wollen. Das mag anstrengend sein, aber es ist nicht schön und ignoriert, ja verhöhnt alle bisherigen Anstrengungen, Musik schön zu machen.

s
Habt ihr so wenig neue Ideen, um Instrumente zu erfinden, mit denen ein Künstler Geröusche entwickeln kann, die man gerne hört? Warum kann ich bei jedem Stück neuer Musik vorhersagen, dass es sich um eine chaotische Ansammlung von Extremen handeln wird? Dissonante Tonsprünge, lang anhaltende dünne Töne zwischen verrückter Schrammelei, und die unzusammenhängenden Aufschreie der Vokalisten: wozu?

Wenn jemand dieser ganzen Windbeutel eine neue mathematische Grundlage, Harmonielehre, neue Instrumente und dafür vervollkommnete Spielweisen erfinden würde, für die ich freiwillig am Samstag Nachmittag ein paar Stunden vor der Stereoanlage sitzen möchte ... ja, dann seid ihr Künstler.

u
Aber so seid ihr nur lächerliche Schaumschläger. Worüber auch eure wichtigen Mienen nicht hinwegtäuschen können.

Und dasselbe gilt für all die anderen modernen Künstler.



[1] In den Textrahmen stehen die Buchstaben des Wortes „Donaueschinger Musiktage“ in alphabetischer Reihenfolge. Genauso ist neue Musik: anstrengend für Schaffer und Rezipient, und dabei völlig sinnlos. Außer für den Schaffer, der noch eine kluge Fußnote daraus machen konnte.
Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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