Montag, 5. Juli 2010

Das deutsche Siegerproblem

Schlechter Traum.
Es ist Samstag abend. Ich bin auf der Ausfallstraße meines Dorfes unterwegs. Plötzlich springen mir drei Kinder vors Auto. Mit Deutschlandfahnen. Ich bin so mit Vollbremsen beschäftigt, dass ich nicht mal zum Hupen komme. Es wäre auch sinnlos gewesen. Niemand hätte micht beachtet in dem allgemeinen Hupkonzert.

Nach dem ersten Schreck überlege ich, ob ich aussteige und den Kids die Flötentöne geige. Ein Pulk Erwachsener, unter denen ich ihre Eltern vermute, steht keine 20 m entfernt. Alle grinsen fröhlich. Mit Deutschlandfahnen. Ich fahre dann doch lieber weiter. Geigen gegen Vuvuzelas sind keine gute Idee.

Autofahrer vor mir fahren kollektiv in Schlangenlinien auf die Gegenfahrbahn. Der Kreisverkehr ist minutenlang mit im Kreis fahrenden Mitbewohnern blockiert. Auf Lichthupe und Hupe als Warnsignal kann man getrost verzichten. Erwachsene Menschen halten mir wie in der Geisterbahn Stoff vors fahrende Auto. Alles mit Deutschlandfahnen.

Es ist unübersehbar: Deutschland die deutsche Nationalmannschaft hat ein Viertelfinalspiel bei der Weltmeisterschaft im Herrenfußball gewonnen.

Dass ich kein Fußballfan bin - geschenkt. Dass ich als Aspie das Konzept von "Sau raus lassen" nicht verstehe - ebenfalls geschenkt. Die Absurdität, dass völlig unbeteiligte Menschen einen Sieg feiern, weil ein paar hochtalentierte Millionärbubis ihren Arbeitsvertrags erfüllen - obendrein geschenkt.

Dass mir das kollektive Fahnenschwenken wegen gewisser Erfahrungen mit zwei Diktaturen ein Graus ist - von mir aus auch geschenkt.

Mit der Gefährdung anderer, und erst recht der Kinder durch die Verletzung der Aufsichtspflicht, hört für mich der Spaß jedoch auf. Gibt es keine Fanmeilen, wo sie feiern können? Keinen Garten, wo sie um den Grill hüpfen können?

Ist unsere Gesellschaft wirklich schon so reizüberfrachtet und abgestumpft, dass wir Freude nur noch durch Regelübertretungen ausdrücken können?

Ich mag Deutschland. Wenn ich mit dem Flugzeug über unsere Landschaft fliege und die grünen Wälder, akkurat bestellten Felder und verstreuten Dörfer sehe, bin ich glücklich, heute in einem der besten Länder der Welt zu wohnen. Aber für unser gemäßigtes Klima können wir nichts, und ein Viertelfinalsieg im Fußball ist für mich kein Grund zum Stolz auf dieses Land.

Fortschritte in der Hochtechnologie, intensive Grundlagenforschung, soziale Errungenschaften, Gerechtigkeit, Integration, Frieden, Sicherheit, Bildung ... da ist so vieles, was in Deutschland gut ist und noch besser gemacht werden könnte.

Und worüber es sich lohnen würde zu jubeln.

Mulmiges Gefühl
Aber einen deutschen Sieg im Auslang mit Nationalfarben und Fahnenschwenken feiern? Sind wir Deutschen reif genug dafür?

Wir sind vielleicht gute Philosophen, Literaten, Forscher und Ingenieure. Aber mit dem Nationalgefühl konnten wir noch nie richtig umgehen. Nicht 1871, nicht 1914, nicht 1939.

Dass ich mit dem unguten Gefühl nicht ganz falsch liege, sehe ich an der aufgebrachten Geste, mit der mir ein T-Shirtträger im mittleren Alter seine Deutschlandfahne hinter dem Auto herschlägt, als ich regungslos durch die Menge fahre. Ich kann das, weil ich Aspie bin, und ich tue das, weil ich mich politisch seit jeher neutral verhalte.

Aber was sollte diese Geste? Dass ich jemandem die Freude verderbe, weil ich sie nicht teile, zeigt schon mal, wie oberflächlich sie ist. Ich meine jedoch, da steckt mehr dahinter. Wenn Neutralität - oder die Verweigerung des Gruppenzwangs - zu solchen Aversionen führt, dann kommen wir langsam wieder an eine Stelle, an der Deutschland schon mehrfach gestanden hat und besser nie gestanden hätte. Oha.

Vielleicht sind Erfahrungen mit Diktaturen ja doch nicht so geschenkt.

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Freitag, 18. Juni 2010

Danke für Ihre Gebühren

4:0 gegen Australien. Das tut dem deutschen Nationalfußballgefühl gut. Das tut insgesamt gut. Wir sind Europas größte Volkswirtschaft (was für ein Wort! als ob es die Wirtschaft des Volkes wäre!), wir sind Papst, und jetzt haben wir auch noch ein Vorrundenspiel in der WM gewonnen.

Naja.

Wir glauben ja wohl alle nicht, dass die FIFA die Weltmeisterschaft aus Altruismus austragen lässt - Gemeinsamkeit der Nationen, Afrika, und so. Denn die WM kostet Geld. Geld, das eine Seite bezahlt, und die andere bekommt.

Die Rechnung auf der Empfängerseite ist einfach: Wer das Geld bekommt, der veranstaltet die WM wegen dieses Geldes. Mehr Gründe bedarf es nicht.

Der Zahler ist wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, die Massen - also Sie - nach der schon Jahrtausende funktionierenden Formel "Brot und Spiele" belustigt zu halten.

Das Lustige ist dabei, dass er gar nicht selber zahlt, sondern dafür in die Taschen der Belustigten greift - also in Ihre.

In Südafrika ist es der Steuerzahler, dessen Geld zu den Firmen umverteilt wird, die Stadien und Infrastruktur bauen. In Deutschland zahlt die ARD Übertragungsrechte an die FIFA, die sie sich über die GEZ-Gebühren bei Ihnen wieder abholt.

Danke für Ihre Gebühren.

Ich habe früher mal in einer staatlichen Verwaltung gearbeitet und kann Ihnen nur sagen: Nie gibt sich Geld leichter für "Brot und Spiele" aus, als wenn es nicht das eigene ist und der, der es tatsächlich zahlt, sich nicht wehren kann.

Genau das passiert natürlich auch bei der WM.

Wir haben also am Sonntag ganz sicherlich nicht gewonnen.

Wir haben alle nur verloren.

Jaaaa, jetzt kommen Sie und sagen - Investition und Wirtschaft und allen zugute und Arbeitsplätze und so...

Ich habe nichts gegen Investition.

Investieren Sie doch: schicken Sie ihr Kind auf die Musikschule, kaufen Sie sich ein Haus, gehen Sie mit Ihrer besseren Hälfte fein essen oder machen Sie einen Tanzkurs.

Da haben Sie wenigstens was davon.

Sich aber 90+ Minuten schwitzende Männer anzusehen, die einem Ball aus pakistanischem Leder hinterhertreten - also, nichts gegen Pakistan, aber ist das eine Investition? Ein Wert?

Alle Möglichen haben am Sonntag gewonnen - die FIFA, die Fußballer, ein paar große und viel weniger kleine Unternehmen - aber ganz sicherlich nicht "wir". Nicht Sie. Nicht ich.

Wir haben nur verloren.

Bezahlt und nichts dafür bekommen.

Aber das war nicht das erste Mal und wird nicht das letzte Mal so sein.

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Donnerstag, 27. Mai 2010

Fail-safe

Jetzt existiert dieses Blog schon über ein Jahr und ich habe noch kaum etwas über die Themen geschrieben, von denen ich wirklich was verstehe: Informatik.

Fangen wir also mal mit einem Begriff aus aus Ingenieurskunst an (auch Informatiker sind Ingenieure!): Fail-safe.

Wörtlich übersetzt heißt das "ausfallsicher" und beschreibt einen Mechanismus, der eine vorhersehbare (und möglichst sichere) Grundstellung einnimmt, selbst wenn sonst nichts mehr funktioniert. Ich erkläre Ihnen das mal.

Stellen Sie sich vor, sie würden darauf wetten, dass Ihr Windows nie abstürzt.

Das ist natürlich riskant, und so sieht jeder ein, dass Sie aberwitzige Summen dafür kassieren, wenn Sie die Wette gewinnen. Schließlich haben Sie der viel höheren Wahrscheinlichkeit des Verlusts die Stirn geboten.

Jetzt stellen Sie sich vor, das verwettete Windows liefe einer historisch bedeutsamen, medial groß inszenierten Produkteinführungspräsentation für eben jenes Betriebssystem. William Henry III [Bill Gates] leibhaftig wird seine Milliarden auf diese Präsentation werfen, um einen Bluescreen zu verhindern.

Und wenn es trotzdem einen gibt und Sie die Wette verlieren, übernimmt Bill Gates Ihre Wettschulden und legt noch was drauf.

Das ist fail-safe.

Okay, das war vielleicht zu technisch. Versuchen wir eine andere Erklärung.

Stellen Sie sich vor, sie seien Banker und Begriffe wie "Berufsehre" oder "Gewissen" seien Ihnen fremd. Anstelle in eine reale Wertschöpfung zu investieren und den Ihnen für ihre Vorausschau und gesundes Urteilsvermögen zustehenden Teil des geschaffenen Wertes abzuschöpfen, verwenden Sie fremder Leute Geld und finanzieren damit riskante Wetten.

Sagen wir, Sie wetten darauf, dass der griechische Schuldendienst funktioniert.

Das ist natürlich riskant, und so sieht jeder ein, dass Sie aberwitzige Summen dafür kassieren, wenn Sie die Wette gewinnen. Schließlich haben Sie der viel höheren Wahrscheinlichkeit des Verlusts die Stirn geboten.

Jetzt stellen Sie sich vor, das verwettete Griechenland nehme an einer historisch bedeutsamen, medial groß inszenierten Einheitswährung teil. Die Deutschen leibhaftig, als Mitinitiator der Währung und auch sonst mit Schuldgefühlen und vorauseilendem Gehorsam gesegnet, werden ihre Milliarden auf dieses Land werfen, um einen überhaupt nicht sicheren und weitgehend folgenlosen Ansehensverlust der Einheitswährung zu verhindern.

Anstatt Sie als Zocker in die Pflicht zu nehmen, weil Sie Ihre Wette verloren haben, zahlen die Deutschen und noch ein paar Europäer Ihnen ihre Wettsumme anstandslos aus.

Das ist fail-safe. Kein Risiko eingehen und so bezahlt werden, als wäre man eins eingegangen.

Aber jetzt kommt es noch besser. Die Deutschen bezahlen Ihre Wettschulden natürlich nicht aus der Portokasse. Sie müssen sich das Geld borgen - und zwar bei Ihnen selbst! Aber Sie sind schließlich Banker und verborgen ihr Geld nicht für umme. Drei, vier Prozent müssen schon drin sein.

Das ist fail-safe. Sich bezahlen lassen, was einem nicht zusteht, und sich zusätzlich dafür bezahlen lassen, dass man es annimmt.

Es geht sogar noch besser. Sie haben nämlich auch keine Portokasse, aus der Sie den Deutschen was leihen können. Also gehen Sie zur Europäischen Zentralbank und leihen sich von der das Geld. Zinssatz: Ein Prozent (1%). Die Zinsdifferenz streichen Sie dafür ein, dass Sie weder etwas haben noch etwas tun.

Das ist schon nicht mehr fail-safe, das ist fool-proof. Sich beim Steuerzahler billig Geld leihen, es dem Steuerzahler teuer wieder verleihen, und die Leihsumme schließlich geschenkt bekommen, weil man auf den Ruin des Steuerzahlers gewettet hat - ja, das ist unbezahlbar.

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Dienstag, 20. April 2010

Asche zu Asche

Geht es nur mir so oder höre ich in letzter Zeit sehr oft das Wort "Staatshilfen"?

Da hievt also ein isländischer Vulkan eine Aschefahne in die Luft, die Flugsicherung wird aschfahl im Gesicht und verbietet das Fliegen, und die Fluglinien machen keine Asche mehr, weil sie ihrem Kerngeschäft nicht nachgehen können.

Das ist nicht nur für die Fluglinien ein Problem.

Sondern auch für den Staat.

Denn wenn der deutschen Wirtschaft durch die Zwangsruhe im Luftraum täglich eine Milliarde Euro an Umsatz entgeht, dann sinken auch die Steuereinnahmen des Staats empflindlich.

Und trotzdem der Ruf nach Staatshilfen?

Ich frage mich, wann mal wer frech genug ist, um das Gegenteil zu verlangen.

Fällt es Ihnen auf? Es gibt nicht mal ein Wort dafür. "Wirtschaftshilfe" meint irgendwie dasselbe wie Staatshilfe. Komisch.

Aber die Zeit, in der der Staat die Wirtschaft zwingt, seine Billionenschulden mit ihrem Aktivkapital zu sichern und ihm bei Bedarf einfach mal so ein paar Milliarden einzuspritzen ... die werde ich wohl nicht erleben.

Schade eigentlich.

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Donnerstag, 8. April 2010

Die halbe Wahrheit

Kennen Sie dass, wenn Sie eigentlich müssten wie sie wollten, aber nicht können weil Sie nicht dürfen?

So ähnlich geht es wohl gerade einer ... sagen wir, etablierten Kirche in Deutschland.

Eigentlich müsste sie jeden ihrer Vertreter (ach was - jeden ihrer Angehörigen!), der dem Moralanspruch ihres Sittenkodex nicht entspricht, hochkant aus dem Laden werfen, weil sie ihre moralische Integrität wahren wollen. Das kann sie aber nicht, weil sie nach demselben Kodex nicht bestrafen darf, sondern vergeben soll.

Eine klassische fail-fail-Situation: wie sie sich auch anstellt - sie macht's verkehrt.

Nun könnten Zweifel an der Tragfähigkeit eines Sittenkodex aufkommen, der sich derart widerspricht.

Ich glaube aber, das Problem liegt an anderer Stelle, und zwar an einer, die auch für uns Wissenschaftler oft schmerzhaft ist. Halbwissen ist gefährlich, heißt es hier.

Die halbherzige Anwendung des religiösen Sittenkodex' ist es auch.

Soweit ich mich nämlich erinnern kann, ist die christliche Vergebungstheorie nicht voraussetzungslos. Ist denn der Matthäus Zöllner geblieben, nachdem er berufen wurde? Oder ist der Paulus nach seiner Bekehrung ein Saulus geblieben?

Wohl nicht. Die mussten alle ihrem Lebensstil abschwören und von Stund' an brave Christen sein. Wer bockte, dem ging es wie heute den Arbeitnehmern: erst Abmahnung, dann Rauswurf aus der Kirche (steht irgendwo in den Briefen; wenn Sie mich nach der Stelle fragen, such ich's mal raus). Vergebung? Pustekuchen. Zumindest solange der Delinquent nicht bereute.

An dieser Stelle zeigt sich die Gefahr vom Halbwissen. Beschränkt man sich nämlich auf die Vergebung und vergisst deren Voraussetzungen, kann man ganz leicht den Missbrauchsopfern einen Strick drehen und sie dafür in die Hölle schicken, dass sie unchristlicherweise nicht bereit sind, ihren Peinigern zu vergeben. Wie pervers!

Der zweite Fehler ist die Verwechslung zwischen Vergebung und Straffreiheit. Ich kann mich an einige Bibeltexte erinnern, die beides klar trennen (suche ich auf Anfrage gerne raus). Das hieße heute: vergeben (also vielleicht: keinen Groll mehr hegen), aber nicht vor den Folgen schützen. Und die Folge heißt beim Kindesmissbrauch ganz klar "Staatsanwalt". Das ist zwar eine deftige Backpfeife für den Missbraucher, aber erstens gehört das Verbrechen eh in die Gewalt des Staates, zweitens lernt er vielleicht was draus, drittens schmälert der Knast nicht sein Seelenheil (ihm ist ja schließlich vergeben worden), und zuletzt: soll der Christ bei der Backpfeife nicht auch nocht die andere Wange hinhalten?

Na also.

Äh, was ich jetzt ganz vergessen habe: Warum haben wir jetzt gerade die Diskussion über Missbrauch und Vertuschung? Wenn die zweifellos nicht unchristlichen Prinzipien "Rauswurf-bei-Reuelosigkeit" und "Vergebung-ja-Straffreiheit-nein" angewendet würden, gäbe es gar keinen Anlass dafür.

Aber vielleicht sehe ich das nur zu einfach.

Ich schaue ja auch nur von der Seite auf diese Institution.

Und verfüge nur über ein gefährliches Halbwissen.

Womit ich mir mit diesem Beitrag erfolgreich ins Knie geschossen hätte. Wenn das nicht alles so wahr und traurig wäre.

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Dienstag, 6. April 2010

Tod dem Internet

Die Kultur des Abendlandes stand auf dem Spiel. Bis dahin war alles so schön gewesen.

Die Klöster und die Universitäten waren die Horte der Weisheit und der Wahrheit. Ihre Bücher waren prächtig eingebunden, mit sinnesanregenden Malereien aus teuerstem Indigo und Gold ausgestattet, und konnten sicherheitshalber abgeschlossen werden. Wer Unwahrheiten schrieb - Leute wie Arius oder Abaelard gehörten zweifelsohne zu diesen - wurde dazu verdonnert, seine Schriften zu verbrennen, und das Problem war aus der schönen heilen Welt.

Bis der Buchdruck aufkam.

Plötzlich konnten Häretiker ihre unkatholischen Häresien verbreiten (Luther), Wissenschaftler ihre unorthodoxen Theorien (Galilei), Philosophen ihre gottlosen Ideen (Voltaire), Strolche ihre unkeuschen Träume (Aretino). Und Gott seine Bibel in der Landessprache.

Dieser Gensfleich von Gutenberg war an allem schuld. Flugblätter, Traktate und Büchlein konnten zu so geringen Kosten, in so geringer Zeit und in so hoher Auflage hergestellt werden, dass niemand mehr in der Lage war, die Verbreitung von Nutzlosigkeiten und Unwahrheiten zu verhindern. Wie furchtbar!

Auch unter Gruppen mit Partikularinteressen war das Geschrei groß. Klöster und Universitäten fürcheten um ihre Vormachtstellung, viele Abschreiber und Miniaturenmaler wurden nicht mehr gebraucht.

Sie hatten durchaus mit gewichtigen Argumenten aufzuwarten.

So sind die Bücher seit den handgefertigten Folianten bis heute sicherlich schmucklos und künstlerisch weitgehend wertlos geworden. Und ohne Zweifel hat sich auch der moralische und wissenschaftliche Anspruch des Durchschnitts aller Druckwerke dramatisch verschlechtert.

Es würde mich interessieren, was Sie dazu sagen. Hätten wir den Buchdruck lieber in Bausch und Bogen verdammen und unterbinden sollen, damit die Wahrheit rein, die Bücher kostbar, die Moral unberührt und die Abschreiber in Lohn und Brot bleiben? ... Nun?

Ich warne vor voreiligen Schlüssen. Der Buchdruck hat auch wirklich schlechte Seiten. Er hat z.B. auch zur Verbreitung des Hexenhammers beigetragen, jenes pseudowissenschaftlichen Machwerks, das vielen Frauen während der Hexenverfolgung das Leben gekostet hat, weil sie der darin enhaltenen Phänomenologie entsprachen -- und nachdem sie in den darin beschriebenen Regeln gefoltert worden waren.

Nichts ist nur gut.

Interessant ist, wie die Leute mit dem Römischen Index (der verbotenen Bücher) auf die Entwicklung reagierten. Sie stellten einfach immer mehr Bücher auf den Index. Am Anfang verbrannten sie noch die Autoren (Bruno, Tyndale), dann nur noch die Bücher (Boccaccios Decamerone, Luthers Schriften, der Koran, die Bibel...). Erst seit 1965 gibt es den römisch-katholischen Index nicht mehr. Galilie, Bruno, Aretino, Voltaire, Luther, die Bibel - sie sind alle noch da.
Epic Fail.

Heute sieht man so etwas ähnliches mit dem Internet geschehen.

Ohne Zweifel stellt es den Klugen wie den Dummen, den Aufrichtigen wie den Betrügern, den Moralaposteln wie den Perversen eine Plattform zur Verfügung.

Dieser Tim Berners-Lee war an allem schuld. Webseiten, Blogs und Chats können zu so geringen Kosten, in so geringer Zeit und mit der ganzen Welt als Publikum verbreitet werden, dass niemand mehr in der Lage ist, die Verbreitung von Nutzlosigkeiten und Unwahrheiten zu verhindern. Wie furchtbar!

Auch unter Gruppen mit Partikularinteressen ist das Geschrei groß. Verlage und Rechteinhaber fürchten um ihre Einnahmequellen, CD-Singles und Zeitungen werden nicht mehr gebraucht.

Sie haben durchaus mit gewichtigen Argumenten aufzuwarten.

So ist der Qualitätsjournalismus der Nachrichtenagenturen sicherlich nicht zu vergleichen mit dem Geschriebsel der Amateurblogger und Wikipediaabschreiber. Und ohne Zweifel hat sich auch der moralische und wissenschaftliche Anspruch des WWW dramatisch verschlechtert, von verschiedenen Betrugsversuchen gar nicht zu reden.

Interessant ist, wie die Entscheidungsträger auf die Entwicklung reagieren.

Gerade wird zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren über sogenannte Netzssperren diskutiert. Kinderpornographie, betrügerische Bankseiten, politische und religiöse Hassschriften, Bombenbauanleitungen, illegale Glücksspiele, verleumderische Blogs ... alles auf den Index!

Stoppschild davor! DNS-Eintrag fälschen! Betrachter protokollieren! BKA vorbeischicken! PC konfiszieren!

Warum stellen wir uns so an? Haben wir wirklich nichts dazugelernt?

Die Bücher von Damals sind wie das Internet von heute der Spiegel der Gesellschaft. Kein Konto wird "im Internet" leergeräumt, keine Bombe im Internet gebaut, keine Hasspredigt im Internet ausgedacht, kein Kind im Internet vergewaltigt.

Das passiert alles in der realen Welt. Das machen alles richtige Menschen.

Und durch das Internet wird uns heute - wie durch die Bücher damals - der brutale Spiegel vorgehalten, in dem wir eine Fratze sehen, von der wir nichts wissen wollen.

Wer dann die Augen verschließt und laut "Stoppschild" ruft, der scheitert schon, weil der die Lage nicht erkennt. Viel weniger kann er sie verbessern.

Andererseits verstehe ich auch den Aufschrei der Internetgemeinde nicht ganz. Das WWW ist zwar praktisch, spielt aber in der Öffentlichkeit noch keine 20 Jahre eine Rolle. Und vorher gab es ja auch Demokratie, Meinungen, Zensur, Aufklärung, Revolutionen und Kriminalität.

Warum sollen wir das in Zukunft nicht auch mit einem zensierten Internet hinbekommen?

Wer sagt, dass wir nicht ein anderes Medium finden?

Ich rate zum Beispiel jedem, der Bilder von Kindern in aufreizender Pose sucht, nicht die ganze Nacht erfolglos im Internet zu suchen. Lassen Sie sich die Handys Ihrer Youngsters geben und suchen Sie sich die MMS durch, da dürfte genug drinstecken. Wenn ein Lehrer die Handys seiner Klasse einsammelt ... nicht auszudenken, der Sündenpfuhl auf seinem Lehrertisch. Und ganz legal!

Immerhin scheint es zur Zeit, als könnte das Internet die Buch- und Zeitungsdrucker alle von der Bildfläche verschwinden lassen. Eine späte Genugtuung für die Kurie und die Miniaturenmaler, die sich dasselbe schon vor 500 Jahren gewünscht haben.

Niemandem sei verboten, dasselbe für das WWW zu hoffen.

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Mittwoch, 3. März 2010

Darwins Zahnspange

In einer Radiosendung höre ich, wieso wir Zahnspangenkinder und Probleme mit den Weisheitszähnen haben.

Die Evolution habe uns mit einem Kiefer ausgestattet, der nur durch Beanspruchung wächst. Als Steinzeitmenschen haben wir auf Graswurzeln und zähem Fleisch rumgekaut, starke Kiefer bekommen und damit genügend Platz für alle 32 Zähne.

Unsere Pommes und Burger sind dagegen Flüssignahrung; der Kiefer bleibt klein, und die Zähne wachsen schief. Fazit: die Gesellschaft entwickelt sich zu schnell für die arme Evolution, die nicht hinterherkommt.

Ich bin Informatiker und arbeite in der Forschung. Würde ich so arbeiten wie wer-auch-immer-sich-das-ausgedacht-hat, dann beziehe ich in einem halben Jahr Hartz IV. Klar, auch wir arbeiten mit Hypothesen ("Ansatz" in der Mathematik), aber sobald sie nicht mehr überzeugt, gehen wir ihr entweder auf den Grund oder lassen die Finger davon. Eine zweifelhafte These als Grundlage für eine neue Theorie zu verwenden macht mich zum Gespött unter Kollegen.

Okay, den Fauxpas "die Evolution hat ... gemacht" lassen wir mal gelten; es war eine populärwisschenschaftliche Sendung, da kann man darüber hinwegsehen, dass dem abstrakten Lehrbegriff "Evolution" eine Kraft zur Wirkung gegeben wird. Hat sie nicht.

Aber dann: Die Evolution ist so klug (klüger als alle unsere Ingenieure), weil sie einen Kiefer geschaffen hat, der sich unter Verwendung verbessert (!), und gleichzeitig so dumm, dass sie kein Mittel hat, die Zähne, die aus dem Kiefer wachsen, an seine Größe anzupassen.

Evolution ist so klug, nur Angepasste lange leben und zur Fortpflanzung zuzulassen, und gleichzeitig so dumm, sie noch länger leben zu lassen, sodass die Fortpflanzung stattfindet, ehe unsere Alterskrankheiten auftreten, deren Ausbreitung sie eigentlich verhindern sollte.

Evolution ist so klug, dem Hai eine strömungstechnisch wundervolle Schuppenstruktur zu geben, und gleichzeitig so dumm, diesen Aufwand zu betreiben, weil all die anderen Fische auch ohne diese Struktur prächtig gedeihen.

Evolution ist so klug, die weniger Angepassten auszurotten, und dann so dumm, durch die Erfindung der Photosynthese auch die besonders gut (an die anaerobe Umgebung) Angepassten auszurotten.

Evolution ist so klug, den Menschen mit aufrechtem Gang, Sprache, großem Gehirn und Laptop hervorzubringen, und so dumm, ihm ein Bewusstsein zu geben, mit dem er seine Umgebung so gestalten kann (Pommes!), dass die Mechanismen der Evolution versagen. Übrigens zeigt unsere zivilatorische Leistung, das Überleben von Minderheiten und Behinderten unter hohem Ressourcenaufwand zu sichern, anstatt nur die Besten überleben zu lassen, dass wir von den Ansätzen der Evolution nicht wirklich überzeugt sind.

Das war ein Bruchteil aller Widersprüche in der Evolution (ich schreib vielleicht mal mehr drüber). Und jetzt kommt der Wissenschaftler durch und sagt: solange diese Widersprüche existieren, löse sie entweder auf (z.B. durch Wiederholung der Evolution - viel Spaß ;-), oder lass die Finger davon. Es ist eine Theorie, aber bitte nichts, was wir als gegeben voraussetzen dürfen.

Natürlich hat auch der Gegenentwurf mit Gott seine Widersprüche. Der Intellekt muss sie wie der Zufall daran messen lassen, warum er Kreaturen schafft, die imstande und immer wieder gewillt sind, sich selbst zu vernichten, und die Frage ist nicht einfach.

Unbequemerweise steht der Spielstand "Gott : Evolution" sehr oft unentschieden. Wem es z.B. zu flach ist, einfach Gott vorauszusetzen, und kontern möchte: "Und wo kommt der her?", dem sei gesagt, dass für die Evolution dasselbe gilt. Da kamen der Übergang von unbelebter zu belebter Natur, nichtatmenden zu atmenden, nichtsexuell fortpflanzenden zu sexuell fortpflanzenden, bewusstseinslosen zu bewussten Lebenwesen auch ohne Vorwarnung und aus dem Nichts. Genau wie Gott. Unentschieden.

Dann haben wir in den Ingeniurwissenschaften noch Ockhams Rasiermesser: von zwei möglichen Erklärungen für ein Phänomen, verwirf die komplexere. Hier gewinnt Gott klar nach Punkten.

Und wenn ich ehrlich bin und mir die Technik, Mathematik, Vielfalt, Selbstheilungskraft und übermütige Farben- und Formfroheit des Existierenden ansehe, möchte ich wirklich dazu tendieren, einen Intellekt zu erkennen, der sich im Spaß an seinen eigenen Fähigkeiten auslässt, und nicht eine verbissene Evolution, deren Glück sich in der Fortpflanzung eschöpft und alles weniger Effiziente zerstört.

Aber dass kommt vielleicht nur von der Forschung, in der ich arbeite.

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Donnerstag, 18. Februar 2010

Demoralisierung im Februar

Ich bin kein Dresdner.

Ich war nicht dabei.

Ich bin kein Geschichtswissenschaftler.

Das einzige, was ich zum Bombenangriff auf Dresden habe, sind zwei Erzählungen.

Die beiden Erzählungen sind über meine Oma. Sie sind kurz.

Nacht vom 13. auf den 14. Februar: Die Detonationen in Dresden sind 100 km weit bis Görlitz zu spüren. "Was machen die bloß?", fragt meine Oma. Ihr Mann - ein Querflöten- und Geigenspieler, Angehöriger der Wandervögel - ist im Krieg verschollen.

Frühjahr 1945, auf der Flucht mit einer 4jährigen Tochter und einem Säugling. Bombenangriff. Sie sitzen in einer Scheune. "Wenn doch endlich eine hier einschlagen würde", sagt meine Oma.

Auf Dresden fielen in zwei Tagen 800.000 Bomben, alle mit dem Ziel, zu zerstören und zu töten. Sie zerstörten für Kriegszwecke arbeitende Fabriken. Sie zerstörten Straßen und Geleise, die früher einmal Soldaten und Material in den Osten, jetzt aber Verletzte, Flüchtlinge und ihre letzte Habe aus dem Osten transportierten. Sie zerstörten Gebäude und Kunstschätze von unschätzbarem Wert. Sie töteten Flüchtlinge: Frauen, Kinder. Wie viele? Ich weiß es nicht. Aber mein Vater saß in einem Flüchtlingszug, der auch bombardiert wurde und entgleiste. Die Frau neben ihm war tot.

So fern und so nah ist mir der Tod von damals.

Der Wikipedia-Artikel zu diesem Ereignis macht mich wütend. Unter "Folgen für die Bevölkerung" lese ich: Ein Absatz von Menschen, die in unversehrte Stadtteile fliehen konnten, viele Erstickte, aber 1000 Überlebende in einer Kirche, auseinandergerissene Familien, traumatisierte Menschen. Zwei Absätze über die Versorgung der Bevölkerung in den folgenden Monaten. Drei Absätze über 70 im Chaos geflohene und damit gerettete Juden.

Soll ich mich jetzt freuen, dass der Bombenangriff 70 Menschenleben gerettet hat? Was ist mit den Getöteten? Mit den "18.000 bis 25.000" Toten in einer Stadt von über 600.000 Einwohnern plus 200.000 Flüchtlingen, von denen ja wenigstens ein paar in dem Meer aus Ruinen gelebt haben müssen, die ich auf den Fotos sehe?

Die Bevölkerung sollte durch den Angriff demoralisiert werden, lese ich. Hm. War ein Volk, dass Hitler gewähren ließ, nicht schon demoralisiert genug? Oder war es noch nicht demoralisiert genug, als dass es sich - mit den sowjetischen Truppen vor Berlin und den Alliierten im Rheinland - den Einzug verbitterter und vergewaltigender Streitkräfte gewünscht hätte, deren Ländern deutsche Generäle unglaublichen Schaden zugefügt hatten? Oder waren sie vielleicht gar nicht demoralisiert und nur damit beschäftigt, ihr bisschen Leben zu retten? Dann waren sie das falsche Angriffsziel. Die Demoralisierung brachte indessen ein Volk zustande, von dem nachher nie jemand was gesehen, nie jemand was gewusst, nie jemand was unterstützt und nie jemand was getan hatte.

Natürlich kann man den Deutschen den moralischen Zeigefinger heben und ihnen sagen - hättet ihr Hitler früher erledigt, hätten man Dresden nicht bombardiert. Nun, zu der Zeit standen Großbritannien und Frankreich schon seit fünfeinhalb Jahren und die USA seit fast 4 Jahren mit Deutschland im Krieg und haben Hitler auch nicht früher erledigt. Und das waren die Kriegsgegner, nicht etwa das Volk, das auch sein Brot aß. Vielleicht war es Zufall, dass sie erst die Deutschen die Russen und dann die Russen die Deutschen aufrieben ließen, ehe der Krieg zu Ende war. Vielleicht war es Zufall, dass den gefürchteten sowjetischen Kommunisten die deutsche Kunstmetropole und ihre Schätze nicht in die Finger fielen, mit denen der danach installierte Arbeiter- und Bauernstaat DDR offiziell eh nichts anfangen konnte.

Heute führen die damaligen Befreier zwei Angriffskriege, und niemand kommt auf die Idee, von ihrem Volk die Liquidierung ihrer Elite zu fordern. Wieder stehen die Kriegführer im Mittelpunkt. Wieder zählen wir die gefallenen Bomben. Wieder reden wir nicht von den Opfern. Wie im Februar 1945 kennen wir die Zahl der gefallenen Bomben, aber nicht die der gefallenen Menschen. Wir wissen nichts über ihre Umstände, ihre Träume, ihr bisschen Leben, das sie sich retten wollen, und die zerstörten Werte, die sie sich einmal geschaffen haben.

Ja. Krieg demoralisiert. Nicht seine Opfer, sondern seine Führer - und seine Zaungäste auch, wenn sie sich nicht in Acht nehmen.

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Dienstag, 9. Februar 2010

Das hässliche Gesicht der Durchschnittsfamilie

Rechnen Sie mal: 26 minus 7.

Leicht? Ja. Ich muss gar nicht rechnen, ich weiß das Ergebnis einfach durchs Hingucken.

Das dreizehnjährige Mädel neben mir zerbricht sich aber den Kopf. Sie ist eigentlich ein helles Ding, spricht schneller Deutsch als ich, versteht unterschwelligem Humor, lernt eine Seite Englischvokabeln ohne Schwierigkeiten - nur Mathe geht nicht.

Flashback
Das erinnert mich an eine weniger angenehme Situation mit ihrem Vater. Die Tochter begreife eben kein Mathe. Als sie 10 war, konnte sie schon keine einfachen Rechenaufgaben lösen, und nach seiner üblichen Reaktion ("Warum kannst Du das nicht?!") war er zu ihrem Mathelehrer gerannt und hatte den zur Rede gestellt. Was ihm einfalle, seiner Tochter die Mathe nicht beizubringen. Dass es natürlich leichter sei, den Begabten was zu vermitteln, der Beruf des Lehrers aber gerade darin bestehe, die Schwächeren nicht abzuhängen.

Der Lehrer meinte nur süffisant, ob der Vater die Probleme seiner Tochter erst jetzt in der vierten Klasse bemerke.

Nun ist das Mädel in der Siebten und noch nicht weiter. Eine Stunde habe ich mit ihr geübt, und ich glaube nicht, dass sie Mathe einfach nicht kann. Sie ist nur unkonzentriert.

Wir knien im Wohnzimmer vor dem Couchtisch. Kinderzimmer? Geht nicht, da sitzt gerade Mama mit der kleinen Schwester, die sich im Dunkeln fürchtet und einschlafen soll. Im Wohnzimmer aber fläzt außerdem noch die spätpubertäre große Schwester (ohne Abschluss aus der Schule), zieht sich einen Schießereifilm rein und glotzt mich manchmal mit großen Augen an, während ich für die Dreizehnjährige die Prozentrechnung filetiere. Der Vater ist nicht da. Es ist schon nach 10 Uhr abends. Vorher war keine Zeit.

Eigentlich ist mir zum Heulen.

Ohnmacht
Hier gehen gerade vor meinen Augen die Aussichten eines jungen Lebens zugrunde, dessen Potential nicht rechtzeitig gehoben, sondern verschüttet wurde. Und ich kann gar nichts dagegen tun.

Sicherlich, die Schule ist anders geworden. Ich habe vor den Lehrern noch Ehrfurcht gehabt, bin still gesessen, habe unter Schönschreiben gelitten. Habe strahlend Einser und heulend Dreier heimgebracht. Der Zeigestock kam zum Einsatz, auch Kreide und der Schlüsselbund flogen mal. Aber Kinder sind erstaunlich leidensfähig. Wenn sie überzeugt sind, es müsse eben so sein, dann können sie tatsächlich sitzen, lernen, pauken, verstehen. Konsequenz und Konzentration sind die Schlüsselworte, zumindest bei den Kleinen. Und die müssen nicht von den Kindern, sondern den Erwachsenen geschaffen werden.

Heute werden Kinder in der Schule nicht zum Lernen gezwungen. Es gibt kein "Arbeit und Vergnügen" mehr, kein anstrengen und belohnt werden. Bei Kindern heißt belehren auch erziehen, und Lehrer kümmern sich heute nicht um die Erziehung der Kinder.

Um so mehr sind die Eltern gefordert. Wenn die Schule keine konzentrierte, konsequente Lernatmosphäre schaffen kann, dann muss diese wenigstens zu Hause herrschen. Ungeordnete Blätter am Couchtisch, Fernsehen nebenbei, abwesende Eltern, ein ungeregelter Tagesablauf und fehlender Schlaf sind das Kontrastprogramm.

Maskiert
Vernachlässigung hat viele Gesichter. Heute hat mich wieder ein hässliches von ihnen angesehen, eines unter der Maske einer intakten Familie in einem sauberen Heim mit einem neuen Minivan mitten in der Großstadt.

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Mittwoch, 3. Februar 2010

Mein neues Geschäftsmodell

Haben Sie Kinder? Dann gehören Sie zu meiner Zielgruppe, denn Sie sind quasi das Inventar für mein neues Geschäftsmodell.

Wie das lautet, wollen Sie wissen?

Bitte, ich sag's Ihnen.

Geschäfts-Modell
Ich werde in Ihrer Wohnung heimlich ein paar Videokameras anbringen. Oder ein paar Mikrofone, die tun's eigentlich auch. Wo? Ich glaube, Kinderzimmer und Küche sind ganz passable Orte.

Die Aufnahmen verkaufe ich dann für 2,5 Mio. Euro an die Justizministerin.

Zumindest, wenn ich Sie dabei erwische, wie Ihnen mal die Hand ausrutscht, wenn Ihr kleiner vierjähriger Balg Ihnen trotzig ein Buch an den Schädel schleudert oder wild schreiend die Mehl- und Zuckertüten aus dem Küchenschrank auf den Boden fegt.

Gewalt in der Erziehung ist in Deutschland nämlich verboten (§1631 (2) BGB). Sie dürfen Ihr Kind nicht mal "fest zupacken, festhalten oder bedrängen"[1] [2]. Leider kann der Staat nicht feststellen, ob Sie das nicht doch hin und wieder tun. Ich kann es aber: mit meiner Videoaufzeichnung.

Okay, das ist nicht legal, weil ich in Ihre Privatsphäre eindringe, aber - ich bitte Sie. Der Staat kauft schließlich auch einem Dieb gestohlene Daten ab, um ein paar Steuersünder zu überführen. Das Wohl der Kinder wird ihm doch aber wohl nicht weniger wichtig sein als ein paar läppische hinterzogene Millionen? (Das Gesicht unserer Ex-Familienministerin möchte ich sehen, wenn das Justizministerin eine CD mit einem illegal dokumentierten Kindesmissbrauch ablehnt, deswegen den Missbrauchsfall nicht verfolgen kann, und ich das der Presse stecke.)

Oder so.
Aber vielleicht sind Sie ja auch gar nicht so, wie ich denke. Vielleicht schaffen Sie es ja, Ihrem kleinen Sören liebevoll und gewaltfrei das Abendkleid aus den Fingern diskutieren, das er gerade zerschnippelt, während er Ihnen die Zunge rausstreckt. So ein Video kann ich dann zwar nicht ans Justizministerium verkaufen, aber ein YouTube-Schlager wird das garantiert. Eine Win-Win-Situation für mich, quasi.

Ich brauche noch ein paar Geschäftspartner, um Deutschland mit meiner Geschäftsidee abzudecken. Sind Sie dabei?


[1] "Meine Erziehung - da rede ich mit!", Broschüre des Bundesjustizministeriums, pdf, S. 12.
[2] Die Wandlung dieses Paragraphen in 44 Jahren ist übrigens phänomenal (via). 1958: "Der Vater kann ,,, angemessene Zuchtmittel ... anwenden"; 1998: "körperliche und seelische Mißhandlungen sind unzulässig", 2002: Körperliche Bestrafungen ... sind unzulässig". Wow. Bestrafung = Misshandlung. Das wird mir wohl später noch mal einen Blogeintrag wert sein.
Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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