Sonntag, 27. März 2022

Frank und Frei(heit und Frieden)

Ein kostenloses Konzert mit Evgeny Kissin, wie cool ist das denn? Dachte ich mir, als der Bundespräsident ein Mittagskonzert im Schloss Bellevue mit den Berliner Philharmonikern ankündigen ließ. Bei Kissin ist mir egal, ob das eine politische Veranstaltung ist, das will ich sehen.

Aber Moment mal, Kissin ... die Berliner Philharmoniker ... und Schloss Bellevue? Es sind gefühlt genauso viele Zuhörer anwesend wie Musiker. Als Kisin wäre ich mir veräppelt vorgekommen. Aber er hat wohl schon alles gesehen im Leben und hat die Größe, Reife und Professionalität, auch in diesem Hinterzimmer Chopins beste Polonaise virtuos vorzutragen. Nur die Seele fehlte (noch).

Dann die Arie des Jelezki aus Pique Dame ... zum Glück können die meisten Anwesenden kein Russisch und müssen nicht verstehen, wie der servile Fürst seiner Lisa schon vor der Hochzeit den Blancocheck für Seitensprünge ausstellt. Ironie wäre, darin eine Anspielung auf den Westen zu sehen, wie er bei allen Ungehörigkeiten Putins die Augen zuzudrücken verspricht. Sarkasmus wäre, Lisas Ende im nächsten Akt als Handlungsempfehlung verstanden zu wissen. Realismus ist, dass es wohl keinen russischen Tenor gab, der sich ein für allemal die Karriere in Russland verbauen möchte und z.B. das viel passendere "Wohin, wohin" aus Eugen Onegin hätte singen können.

Transzendenz tritt dann plötzlich bei Schostakowitsch auf. Kissin brillant in der Selbstrücknahme, Schostakowitsch steht mitten im Raum: Wenn Selbstdarstellung und Realität weit auseinanderliegen, verfolgt man immer den, der mit dem Finger draufweist, und sei es nur durch Musik. Das trifft auf Russland wie auf den Westen zu, und so war das Klaviertrio das einzig aktuelle Stück an diesem Mittag.

Damit will ich gar nicht den Beitrag von Walentyn Sylwestrow kleinreden. Er hat schon in der Sowjetzeit sein Päckchen zu tragen gehabt, und im Alter von 84 Jahren sollte niemand vor den vermeintlichen Erben jener Zeit um sein Leben fliehen müssen. Seine Zugabe, eine Komposition (nicht doch eher eine Improvisation?) auf seine Eindrücke bei der Flucht aus Kiew aber machte deutlich, wie dumm der Titel der Matinée eigentlich gewählt war. Wenn die Bomben sprechen, dann packt die Musik die Koffer und flieht. Sie hat nichts entgegenzusetzen (Bibelfeste mögen mir verzeihen). Wären Selensky und Putin dabeigewesen, sie hätten beide herzlich gelacht ob des Anspruchs, durch dieses Konzert etwas für Freiheit und Frieden getan zu haben. Das muss auch der eingeladene, aber abwesende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk so gesehen haben, der dazu verlauten ließ, keinen Bock auf große russische Kultur zu haben, dem man aber unterstellen muss, angesichts der beteiligten prominenten Künstler, die sich immerhin öffentlich gegen den Krieg geäußert hatten, gar keinen Bock auf irgendeine Kultur in diesem Sinne zu haben.

Ob er sie denn ausgerechnet an diesem Ort gefunden hätte, ist fraglich. Das ließ sich schon am Äußeren ablesen. Ein Präsident einer Demokratie muss in einem Schloss hausen, weil die Generationen danach nichts dauerhaft Schöneres fürs Auge und Gemüt zustandegebracht haben. Gespielt wurde auf Instrumenten, die seit hundert oder zweihundert Jahren nicht mehr verbessert werden konnten (oder gar selbst so alt waren). Und das nicht von Mitteleuropäern, die haben das Interesse und Verständnis daran längst an Osteuropa, den Nahen Osten oder gar Japan abgegeben. Moderne Elemente in diesem Ensemble: die Hochleistungsmikrofone, deren Verkabelung lieblos durch die Gegend geworfen, stellenweise mit Stolperschutzmatten überbrückt wurde. Diese Moderne hat uns überhaupt nichts mitzuteilen, nicht direkt, und wenn metaphysisch, dann will ich die Nachricht gar nicht hören.

Und überhaupt... ja, gibt es in Berlin nicht drei Opernhäuser wo man dieses Event hätte groß aufziehen können? Müsste so ein Konzert, solch ein Bekenntnis zu Freiheit und Frieden nicht dort oder viel besser vor der Siegessäule, unter Einbezug der Massen stattfinden? Oder war das dann doch zu viel Aufwand für Frieden und Freiheit? Oder war Corona wieder stärker als das Bekenntnis zu ihnen?

Oder war es genügend für einen PR-Stunt des Bundespräsidenten? Der konnte wegen Corona nicht persönlich anwesend sein, und die Matinée wurde daher passenderweise zu einer Art Privattherapie für Walentyn Sylwestrow, der dort auch mehr zu suchen hatte als F.W. "Sicherheit in Europa nicht ohne Russland"; und "Kosovo ist unabhängig" Steinmeier.

Schlagwort: Fadenschein

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Dienstag, 27. Juli 2021

War der Holocaust ein Femizid?

Auf faz.net beschwert sich Ronya Othmann über das Versagen der Weltgemeinschaft beim Überfall des IS auf die Eziden (hier als Jesiden bekannt).

Ich versuche, mich in ihre Wut hineinzuversetzen. Als Deutscher mag einem das auf dem Umweg gelingen, sich die Lage der Juden im Dritten Reich zu vergegenwärtigen. Nach und nach waren sie von allem verraten worden, worauf sich jeder Mensch verlassen möchte - vom Recht, von der Gerechtigkeit, von der Nachbarschaftlichkeit, schließlich von der Humanität, gar von ihrer Gottesvorstellung.

Das sollte nie geschehen. Ist es aber. Vielleicht könnten wir daraus lernen?

Aus der Kolumne von Ronya Othmann kann man nichts lernen. Der Anreißer lautet: "IS-Kämpfer ... töten die Männer, vergewaltigen die Frauen systematisch. Warum ist dieser Genozid, der ein Femizid war, nicht fest im öffentlichen Bewusstsein verankert?"

Nun, ich finde es gar erfreulich, wenn sich keine Unwahrheiten im öffentlichen Bewusstsein verankern. Wenn vor allem Männer getötet werden, ist das kein Femizid, Frau Othmann. Unter keinen Umständen.

Bei der offensichtlichen Provokation, nicht nur den Androzid unsichtbar zu machen, sondern einen nicht stattgefundenen Femizid herbeizuphantasieren, muss man sich fragen: warum tut sie das?

Es liegt doch nicht daran, dass die Wikipedia zwar einen Artikel zu Femizid, aber keinen zu Androzid hat? Nein, das tut Ronya Othman nicht genug. Also gehe ich davon aus, dass die Autorin auf der Welle der aktuellen Wahrnehmung des Frauenopfertums mitreitet und die Eziden hinten dranhängt, um überhaupt Aufmerksamkeit für das Thema zu bekommen. Schließlich ist deren Leid auch der FAZ wieder nur eine Kolumne wert und keinen Leitartikel.

Geschenkt. Klappern gehört zum Handwerk. Aber der Leser ist nun aufmerksam geworden, denn ein Bockshorn kommt selten allein.

Und so versucht die Autorin im Anschluss unterschwellig zu vermitteln, warum der (echte) Androzid zu vernachlässigen ist, während der (ausgedachte) Femizid Eingreifen erfordert. Sie tut das, indem sie den IS-Kämpfern Kalkül zuschreibt. "Durch eine Heirat (freiwillig oder nicht) mit einem Nicht-Ezîden wird die Frau aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ihre Kinder sind nicht mehr ezîdisch ... [sondern] nach dem im Irak und in Syrien geltenden islamsichen Recht Muslime."

Und?

Ich habe diese Stelle mehrfach gelesen und verstehe das Problem nicht.

Stellen Sie sich vor: Eine Deutsche heiratet einen Ausländer, oder sie wird gar von einem vergewaltigt - und nach deutschem Recht wäre sie dann keine Deutsche mehr. Abstrus? Ja. Seit wann also ist es Teil einer schützenswerten Kultur, jemanden wegen einer Ehe, noch dazu einer erzwungenen, aus der Gemeinschaft auszuschließen? Sollten wir den Eziden nicht lieber dabei helfen, ihren Rassismus zu überwinden?

Ach so, die Autorin schreibt, diese Regel sei aufgegeben worden. Ich bin jetzt noch ratloser. Stellen Sie sich erneut vor, Frau Othman schriebe in einem Artikel über Deutschland, dass Frauen hier nicht wählen dürften. Aber diese Regel sei 1918 aufgehoben worden. Wieder so ein Bockshorn, nicht?

Hier manifestiert sich jedoch nicht nur - unwidersprochen von der Autorin - der Rassismus, sondern auch die Misogynie der Eziden. Ronya Othmann macht sich offensichtlich auch die Ansicht zu eigen, eine versklavte und vergewaltigte Frau - unschuldig an beiden Leiden - verliere automatisch ihre Identität. Für mich wäre eine vergewaltigte Frau eine Frau, und eine vergewaltigte Ezidin eine Ezidin, aber die Autorin sieht in ihr nur noch eine Vergewaltigte. Welch ein grauenhaftes Weltbild.

Geht aber noch weiter. Ich habe den Satz ja nicht zu Ende zitiert.

Ronya Othmann moniert, dass die Kinder "nach dem im Irak und in Syrien geltenden islamischen Recht Muslime sind. Und die Väter, also IS-Täter, das Sorgerecht haben."

Ja, Väter mit Sorgerecht sind natürlich ... was, ein Problem? So langsam beschleicht mich das Gefühl zu wissen, warum der Autorin auch die ermordeten Männer und die zu Kindersoldaten missbrauchten ezidischen Jungen keine weitere Erwähnung wert sind. Mit denen hat eh keiner Mitleid.

Doch wenn die islamische Rechtsordnung das Problem ist, nach der ein Kind eines Muslims immer Muslim ist - warum benennt das die Autorin nicht als Problem, sondern als ein hinzunehmendes Corollar?

Wenn man genau hinsieht, kommt man an dieser Stelle an den Kern des Problems, den die Autorin zu umgehen versucht wie die Evergiven das Kap der Guten Hoffnung.

Der ganze Artikel ist als Anklage an die Deutschen, die Europäer, die Welt gehalten: aber die Täter sind nicht die Deutschen, die Europäer oder die Welt. Es sind Täter des Islamischen Staates, inspiriert durch Islamismus, getrieben von Fanatismus, gedeckt durch das Islamische Recht.

Aber Ronya Othmann behauptet, Islamisten vergewaltigten ezidische Frauen aus Misogynie, und die Deutschen seien schuld.

Was für eine Nebelkerze.

Schlagwort: Fadenschein

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Freitag, 18. Juni 2021

Anekdoten aus der Qualitätspresse, #111 (gefühlt)

Der 17. Juni sollte eigentlich ein Gedenktag sein, wenigstens in Ostdeutschland.

Stattdessen solches:


Ganz vorne in dem Demozug am Abend liefen schwarz vermummte Teilnehmer. Skandiert wurde unter anderem: "Bullenschweine raus aus der Rigaer!" Die Polizei mahnte per Durchsage, die wegen der Corona-Pandemie vorgeschriebenen Abstände einzuhalten und einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen.

Danke, n-tv. Ich möchte Euch für den Pulitzer-Preis vorschlagen. Besser kann man Satire und Journalismus nicht vereinen.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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