Die zufällige Welt
makarios, 14:28h
Selbstverständliches
Aspies wundern sich immer wieder über die Selbstverständlichkeit, mit der die Normalos ihre Welt für das Maß aller Dinge halten und nicht hinterfragen. Nehmen wir so Dinge wie das Händeschütteln beim "Guten Tag".
"Händeschütteln"?
Haben Sie sich mal gedanklich neben so eine Begrüßungsszene gestellt und von der Seite zugesehen, wie sich zwei erwachsene Leute bei den Gliedmaßen packen, um sie zu schütteln? Es ist völlig irrsinnig. Man sagt, früher habe die Geste sichergestellt, nicht im nächsten Augenblick vom Dolch des Gegenübers durchstoßen zu werden - was bei einem Linkshänder schon mal nicht funktioniert (siehe die biblische Anekdote über
Ehud). Und wofür brauchen wir das heute? Darüber hinaus kann das Handnehmen und -geben überaus peinlich und unangenehm sein (Schweißhände; eingecremte Hände, unabgetrocknete Hände). Außerdem ist es unhygienisch, wenn man gerade in die Hand geniest oder was-weiß-ich unaussprechliches damit getan hat, z.B. die Edelstahlstange an der Schwingtür zum Karstadt angefasst, wie schon hundert Leute zuvor.
Freak!
Stellen Sie sich vor, ich gehe zum Bewerbungsgespräch und sage auf die ausgestreckte Hand des HR-Chefs, dass ich sie nicht nehme, weil es sich dabei um ein anachronistisches Ritual handelt, das sinnfrei und zudem unhygienisch ist. Ich hätte wissenschaftlich von allen Seiten recht, aber die Stelle bekomme ich nicht. Hilfe, ein Freak! Normalos akzeptieren höchstens Leute, die sich über die Selbstverständlichkeiten der Welt ironische Gedanken machen. Niemals jedoch jemand Konsequentes, der das Gedachte umsetzt.
Einige Zufälle
Dabei stört mich als Aspie nicht so sehr die Sinnfreiheit vieler heute verlangter sozialer Interaktionen, sondern die Zufälligkeit, auf der ein großer Teil unserer heute existierenden Gesellschaft basiert. Nehmen wir ein Beispiel: Vielleicht haben Sie schon das Wort "Weltliteratur" gehört, das ist angeblich das, was Shakespeare, von Goethe oder Tolstoi geschrieben haben; ähnliches könnte man in der Musik von Bach und Beethoven sagen oder in der Malerei von da Vinci, Michelangelo und Rembrandt. Das sind unsere Standards.
Einige Nichtfälle
Ich will mich gar nicht darüber auslassen, dass diese Standards nur einen Bruchteil der Weltgeschichte gelten und auch nur einem Bruchteil der Weltbevölkerung etwas bedeuten. Schlimmer: Die Existenz dieser Geister war zufällig. Sie hätten genausogut nicht leben oder nichts produzieren können, und dann säßen wir heute ohne gewisse Symphonien, Fausts und Giocondes da. Diese Werke mussten nicht notwendigerweise entstehen, das beweist die Geschichte, die sonst noch viel mehr ebenbürtige Werke vorzuweisen hätte. Hätten statt ihrer andere Geister gelebt, gäbe es heute andere Standards in der Musik, andere ehemalige Länder der Dichter und Denker, andere Attraktionen im Louvre.
Andere Welt
Ist das nicht beängstigend, dass die ganze Geschichte dieser Welt, die uns anders vorzustellen wir enorme Schwierigkeiten haben, von der zufälligen Existenz und Handlung einzelner Personen abhängt? Der Aspie sagt ja und nimmt daher diese zufällig aufgebaute Welt für alles andere als notwendigerweise so existierend auf, ist bereit, die heutige ohne weiteres über Bord zu werfen, wenn sich eine bessere ergäbe.
Aber wenn wir uns schon dem Händeschütteln nicht entziehen können - welche Chance gibt es dann für tiefgreifendere Veränderungen?
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Nutzen Sie die Abwesenheit der Inquisition
makarios, 15:29h
Ich wohne ja im Bundesland der Autoerfinder. Das ist natürlich Zufall, und ich habe den Tüftlern von damals keinerlei Beitrag geleistet. Umsomehr erstaunt mich nun die Frechheit gewisser heutiger Interessensvertreter und die Naivität derer, die ihre Argumente ernstnehmen und weitertragen.
Ich überlege mir gerade, wie vor 125 Jahren jemand argumentiert hätte: „Es ist falsch, an der Entwicklung des Automobils zu arbeiten, denn
- Es gibt keine asphaltierten Straßen und Autobahnen: wo soll das Auto also fahren?
- Das Auto macht den Transport teurer, weil Benzin teurer ist als Hafer
- Zuchtpferde sind auf absehbare Zeit schneller als Autos, lasst uns lieber die Pferdezucht intensivieren
- Ein deutscher Sonderweg ist sinnlos; die Franzosen erfinden ja auch grad kein Auto
Lächerlich, oder? Deswegen finde ich es auch heute so frech zu behaupten – und so naiv zu glauben – dass der Umstieg auf erneuerbare Energien soooo unmöglich sei, weil es keine entsprechenden Stromleitungen gebe, erneuerbare Energien teurer seien, man als Ingenieurland lieber die Atomkraft perfektionieren sollte und ein nationaler Ausstieg eh sinnlos sei.
@ 1: Leitungen
Dann baut halt die Leitungen; die bisherige Vernachlässigung der Infrastruktur kann man wohl nicht den erneuerbaren Energien anlasten. Im Gegenteil wird durch die Ansiedlung der Energiewirtschaft im Norden und den Transfer in den industrialisierteren Süden endlich ein Beitrag zum Ausgleich des Nord-Süd-Gefälles geleistet.
@ 2: Kosten
Auch kann ich mich nicht erinnern, dass die Konzerne die Preissteierungen, die bisher nicht minder zu verzeichnen waren, an die große Glocke gehängt oder ihrem Erzeugungsmodus zugeschrieben hätten.
@ 3: Forschung
Noch viel verwerflicher finde ich als Forscher die Aufforderung, lieber an den unberechenbaren Folgen einer homoziden Technologie herumzutüfteln, als an wegweisenden Innovationen zu arbeiten, die auch für Entwicklungsländer keine unüberwindbare technologische Hürde mehr darstellen und dazu auch kein Missbrauchspotential mehr haben.
@ 4: Alleingang
Und zu guter letzt sagt einem schon ein mathematisches Grundverständnis, das jede eliminierte Gefahrenquelle ein Sicherheitsgewinn ist, ganz abgesehen von den positiven psychologischen Begleiterscheinungen.
Ich bitte Sie, wir leben nicht mehr im Mittelalter, und die Inquisition ist lange her. Es bedarf keines Bruno oder Galilei mehr, um nüchterne Wahrheiten gegen interessengetriebene Scheinargumente aufzustellen. Tun Sie es also!
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Schluss mit Beta
makarios, 16:07h
Beta-Versionen
Was Gadgets, Kommunikation und soziale Netze angeht, sitze ich in der Fakultät für Informatik zwangsläufig am Puls der Zeit. Da sind einmal unsere Studenten, die traditionell zu den ersten Anwendern halbwegs ausgereifter Informationstechnologien zählen. Wir in der Forschung müssen sogar versuchen, in die Zukunft zu schauen, um rechtzeitig an den Themen zu forschen, die in fünf Jahren hip sind. Glauben Sie mir: die Wirtschaft lebt von uns "early adaptors". Die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (und die Kapitaldecken) der Firmen sind heute so klein, dass immer erst mit unausgereiften Zwischenprodukten (sogenannten Beta-Versionen) Geld verdient werden muss, um die Mittel für weitere Forschung zu haben...
Ich will Sie nicht langweilen und sage Ihnen gleich, warum mir dieser Trend missfällt:
- Weil Beta-Versionen zur kritiklosen Hinnahme verleiten
- Weil die breite Annahme von Beta-Versionen deren Fortentwicklung verhindert.
Das klingt jetzt vielleicht theoretisch, ist es aber nicht. Nehmen Sie nur mal eine Suchmaschine ihrer Wahl. Die Dinger sind der Hit. Wenn meine Studenten in den Übungen ein Problem lösen wollen, googeln sie erst mal nach den Stichworten der Aufgabenstellung und hoffen, dass es die Lösung schon im Netz gibt. So schaffen sie dann auch den Bachelor bolognese (Insiderwitz) in der vorgeschriebenen Zeit. Die Unibibliothek liegt dagegen derart verwaist da, dass ich niemand über den Lärm beschwert, der durch schon ein Jahr Sanierung entstanden ist.
Allerdings waren Suchmaschinen bei ihrer Einführung noch nicht mal in der Beta-Version angekommen. Suchmaschinen erstellen, grob gesagt, einen ständig aktualisierten Katalog aller Wörter, die in Internetdokumenten auftauchen, und ihre Intelligenz liegt darin, in diesem Katalog schnell blättern und die Suchergebnisse zur Zufriedenheit aller Seiten ordnen zu können. Das war vor 12 Jahren schon so, und das ist heute so.
Kritikpunkt 1
Hier tauchen auch schon die Kritikpunkte auf. Die Suche mit Suchmaschinen, wie wir sie heute betreiben, ist geradezu steinzeitlich. Wissen Sie z.B., wie sie
logische Operatoren (
und,
oder,
nicht) bei Google verwenden können? Nehmen wir an, Sie wollen alle moralischen Fehltritte eines gewissen italienischen und eines gewissen französischen Politikers außerhalb ihrer Heimatländer suchen. Der Google-Ausdruck sieht so aus:
Sex ((Strauss-Kahn -Frankreich) | (Berlusconi -Italien))
. Wissen Sie, wie Sie
reguläre Ausdrücke verwenden? Wenn Sie die Vornamen eines gewissen fränkischen Adligen nicht kennen, können Sie ein "ich-weiß-nicht"-Sternchen verwenden:
"Karl Theodor * zu Guttenberg"
, und sie finden alle Varianten, wobei die angegebenen Worte in genau dieser Reihenfolge auftauchen.
Nicht gewusst? Gewusst, aber nie verwendet? Sehen Sie. Die Suchmaschine verlangt von Ihnen nicht, vor der Suche nachzudenken und einen Suchauftrag zu formulieren, der genau Ihrer Frage entspricht. Sie tippen einfach
dominik sylvio sex
ein und hoffen, dass Google ihre Tippfehler korrigiert und die Millionen Webseiten so ordnet, dass das Interessante vorne steht. Viel besser wäre es doch, wenn Google Sie da nicht bevormundet, sondern wenn Sie die Frage so genau stellen könnten, dass es vielleicht nur 10 Ergebnisse gibt, die Sie selber gewichten können.
Sie sind jedoch kritiklos - die erste Suchmaschine konnte nur Worte suchen, und damals konnte man nicht mehr von ihr verlangen. Aber: Sie verlangen von ihr auch heute nicht mehr. Wie wäre es mit einer Anfrage wie: "In der Überschrift soll der Name eines Politikers und ein Verkehrsmittel vorkommen, im Text soll keine Partei mehr als drei Mal erwähnt werden, und der Artikel soll von einer deutschen Zeitung in den letzten drei Jahren verfasst worden sein". Wow! Das gibt vielleicht zwanzig Treffer, und bei zwanzig Treffern übersehen Sie garantiert keinen relevanten Artikel mehr. Sie verlangen das aber nicht von Google. Sie tippen lieber fünf Anfragen mit verschiedenen Politikern, Parteien, Autos und Verlagen, die Ihnen gerade einfallen, und halten Googles Pflicht und Schuldigkeit für getan, wenn es Ihnen 100.000 Dokumente in 0.03 Sekunden zurückliefert.
Ich finde, das ist ein Hohn!
Kritikpunkt 2
Vor allen Dingen, weil die Technologie, die richtig ausdrucksstarke Anfragen zulässt, seit Jahren existiert. Sie heißt manchmal
Semantic Web und beschreibt den Versuch, alle Inhalte im WWW zu beschreiben. Zum Beispiel würde um das Wort "Smart" in der Überschrift stehen, dass es sich dabei um ein Auto handelt, was schonmal falsche Funde nach dem englischen Wort "smart" (für "klug") ausschließt und außerdem eine Menge Folgen hat (dass es auch ein Verkehrsmittel ist, für Individualverkehr geeignet ist usw. ergibt sich nämlich automatisch).
Sie können jetzt schon riechen, warum es dazu nie kommen wird: Wer will schon die Milliarden Dokumente im Netz alle anfassen und jedem Wort eine Bedeutung und einen Kontext zuweisen, nur damit Google bessser wird? Damit sind wir beim zweiten Problem: Die frühe Lösung, das WWW einfach nach Stichworten abzusuchen, hat viel zu lange den "Leidensdruck" nach der inhaltlichen Suche aufgehoben, die ich Ihnen oben erklärt habe. Nun aber sind alle Webseiten so geschrieben, alle Suchmaschinen so programmiert und alle Benutzer so gepolt, dass eine Änderung viel zu aufwändig wäre, selbst wenn sie alles viel besser machte. Die Beta-Versionen von Webseiten, Suchmaschinen und Ihnen als Benutzer verhindern den Fortschritt!
Und nun?
Ich würde gern dafür plädieren, eine Sache erst mal zu Ende zu denken und dann auf die Welt zu bringen. Das stärkt unsere Kritikfähigkeit und öffnet den Weg zu dramatischen Fortschritten. Leider kann ich Ihnen auch nicht sagen, wie wir das anstellen könnten.
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