Inmitten der Koalitionskrise, in der die Kanzlerin mithilfe eines europäischen Gipfels eine Richtlinie sucht, um sie dann kompetent durchzusetzen... aber ich schweife schon ab. Die Tagesschau veröffentlicht einen Kommentar, in dem Malte Pieper die Kanzlerin auffordert: "Räumen Sie das Kanzleramt".
(Übrigens, ich bin Privatblogger ohne Werbeeinnahmen, ich darf sowas zitieren).
Dieser Kommentar wundert mich überhaupt nicht. Er passt wunderbar in die Presselandschaft. Die Dankesbekundungen der Kommentatoren unter dem Kommentar teile ich dagegen nicht.
Darum:
Rein rechtlich: Die Kanzlerin kann nach dem GG einem konstruktiven Misstrauensvotum unterliegen, die Vertrauensfrage stellen oder einfach um ihre Entlassung bitten. Im ersten Fall muss der Bundestag einen Nachfolgekanzler wählen, in den letzten beiden darf er es tun. Nur wenn der der Bundestag keinen Nachfolgekanzler wählt, wird das Parlament aufgelöst und neugewählt.
Die Mehrheit des Bundestags trägt jedoch die Linie der Kanzlerin offensichtlich, sonst gäbe es das Misstrauensvotum schon längst. Selbst ein vorgeschlagener Nachfolgekanzler würde also keinen radikal anderen Politikstil vertreten. Und eine Neuwahl wird nicht stattfinden, sowas fürchten die Parteien wie der Teufel das Weihwasser (siehe Fastgleichstand der SPD mit AfD, und dass selbst eine große Koalition heutzutage eine Minderheit wäre).
Im Prinzip ist der Kommentar nichts also anderes als der Ruf nach einer zeitweiligen Handlungsunfähigkeit der deutschen Regierung, mit dem verdeckten Hintergedanken, dass das Wahlvolk in der Folge trotzdem nicht zum Zug kommen wird.
Und das gleich auf zwei Arten. Erstens haben die Deutschen diese Konstellation sehenden Auges nach 2 Jahren Flüchtlingskrise so gewählt.
Viel beschämender ist aber, womit Malte Pieper seine Forderung begründet: Die Kanzlerin genieße nicht mehr das Vertrauen der anderen europäischen Staaten, die Interessen aller [Europäer] im Blick zu haben.
Nun, wer glaubt, dass Europa an Merkel scheitert, muss sich vorwerfen lassen, entweder größenwahnsinnig zu sein oder ein tiefes Misstrauen in die EU zu hegen, die ohne Deutschland wohl nicht zu genesen vermag.
Zuletzt: Keine May, kein Salvini, ja nicht mal ein Macron wurde gewählt, um den Europäern zu gefallen, sondern um Innen- und Außenpolitik im Interesse ihres Landes zu betreiben. Es ist die deutsche Kanzlerin, Herr Pieper, nicht die europäische. Dass Sie gleichsam den Europäern ein nicht verfassungsmäßiges Recht auf ein Misstrauensvotum einräumen, die deutschen Wähler dagegen im Kommentar überhaupt nicht vorkommen, spricht Bände über Ihr Verhältnis zum Grundgesetz.
Das Grundgesetz kennt kein "Räumen" des Kanzleramts, das Herr Pieper fordert. Die rechtlichen Möglichkeiten für einen Kanzlerwechsel stehen im Grundgesetz (abgesehen vom Rücktritt), und ich habe sie oben erwähnt. Darf man von Öffentlich-Rechtlichen nicht erwarten, im Zuge des Bildungsauftrags wenigstens die korrekten Begriffe und den gesetzlichen Rahmen zu erwähnen, den man für seine Überlegungen heranzieht?
In den Kommentaren ist mehrheitlich, wie schon erwähnt, ein kollektives Aufseufzen zu vernehmen: endlich sagt's mal einer in den Medien.
Da die Große Koalition in derzeitigen Umfragen nur eine Minderheit erreicht, darf man davon ausgehen, dass die Mehrheit der Deutschen die aktuellen politischen Entscheidungen in der Tat nicht mitträgt. Wer mit einigermaßen offenen Ohren durchs Land geht, hat sich das schon vor zwei Jahren abzeichnen sehen. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, um beim Fokus des Kommentators zu bleiben.
Die Medien hätte es gebraucht, unvoreingenommen darüber zu berichten und sich in Analysen und Kontrollen zu versuchen. Jetzt, wo die Mehrheit amtlich ist, schnell noch scheinbar in den lauteren Chor mit einzustimmen, ist purer Populismus.
Niemand braucht Medien, die mit Nachrichten erst kommen, wenn die Mehrheit sie schon kennt.
Aber die einen waren ja eher mit dem Telemedienstaatsvertrag und die anderen mit dem europäischen Leistungsschutzrecht beschäftigt, als sich um ihre Kernaufgabe zu kümmern.