Dienstag, 6. Juli 2010

Der 2000jährige Stillstand

"Ich [kann] mich nicht damit abfinden, dass es ein technisches Medium geben soll, wo das angeblich alles nicht mehr gilt, was seit 2000 Jahren gegolten hat."[1]

Der Bundesinnenminister bezog sich in diesem Zitat auf das Internet. Der Kontext: das von ihm angestrebte Verfallsdatum für Informationen im Internet. Der Minister meinte, wenn unsere Rechtsordnung Verjährungsfristen im Gesetz und das Aufzeichnungsverbot des gesprochenen Wortes kenne, dann sollten auch Daten im Internet irgendwann automatisch verschwinden.

Nun ist nicht alles, was hinkt, auch ein Vergleich. Der Hinweis auf die gesprochene Sprache zum Beispiel: Das Internet ist wohl alles andere als gesprochene Sprache. Oder der Hinweis auf die Rechtsordnung: Die 10jährige Verjährigunsfrist von Vergewaltigungen bedeutet doch auch nicht, dass die Tat danach nicht mehr existiert (Verjährung ist nur ein Verfolgungshindernis).

Und wer hat da "angeblich" gesagt, alles solle nicht mehr gelten? Niemand. Aber der Durchschnittsmensch hat Angst vor radikalen Veränderungen, und solche Andeutungen generieren eine Ablehung des Mediums an sich. Vor dem Hörer baut sich das Bild vom nerdigen Netzfetischisten, dem russischen Hacker oder der nigerianischen Diplomatenwitwe auf, denen ein völlig "rechtsfreies" Internet natürlich sehr recht wäre. Böse, böse, böse. Der Minister, der das Gegenteil will, muss also gut sein und recht haben.

Wenn das so gemeint war: Fein gemacht, wirklich.

Ist das so?
Machen Sie doch mal den Realitätstest. Möchten Sie gegen Verleumdung im Internet vorgehen können? Möchten Sie, dass Verbrechen aufgeklärt werden, für die das Internet benutzt wurde? Natürlich! Das alles ist Teil unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung, die Sie unterstützen. Den an die Wand gemalten kollektiven Teufel, der das alles im Internet abschaffen möchte, gibt es nicht.

Der Minister hat vielleicht etwas anderes gemeint, als er gesagt hat. Zwischen den Zeilen steht: Das Internet muss unsere Gesellschaft so unverändert lassen, wie sie seit 2000 Jahren besteht.

Nichts ist so beständig, wie die Veränderung
Das ist natürlich eine Absurdität in sich. Wenn ich vieles andere bedenke, was bis in die Neuzeit gedauert hat ... Leibeigenschaft, Todesstrafe ... dann bin ich doch sehr froh darüber, dass vieles nicht mehr gilt, was seit 2000 Jahren gegolten hat. Denken Sie auch daran: Im ersten Jahrhundert wurden die umständlichen Schriftrollen durch den Kodex (die Buchform) ersetzt, die schriftliche lingua franca ist von griechisch auf lateinisch und englisch gewechselt, der Landfriede hat die Blutfehden beendet, der Buchdruck die Schriftmalerei... Das alles hat tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft nach sich gezogen und mit langen Traditionen gebrochen. Nicht mit allen, aber jeweils mit einigen, und heute würden wir das "Fortschritt" nennen.

In die Geschichte eingegangen sind die, welche den Veränderungen den Weg bereitet haben - nicht deren Verweigerer. Das ist mit dem Internet nicht anders. Wer kann im Ernst glauben, dass das reale Leben nachgeben und sich völlig einer virtuellen Gesellschaftsordnung beugen wird, und sei sie auch 2000 Jahre alt? Nein, das Internet wird weiterbestehen oder bald von etwas noch Leistungsfähigerem ersetzt werden (mein Tipp: "a dynamic cloud of mobile clouds" - sorry, Geeksprache), aber es wird nie wieder so sein wie vor 2000, 100, 50 oder 10 Jahren. Nie!

Ich glaube, das Unwohlsein des Ministers rührt von einer anderen Quelle: unsere Gesellschaft ist unvorbereitet auf die Veränderungen, die das Internet mit sich bringt.

Da ist zum Beispiel das Recht: Das Copyright stammt aus einer Zeit, in der Kopien wirklich Vervielfältigungen waren, während heute die elektronische Kopie Grundvoraussetzung für jedwede Nutzung elektronischer Information ist. Und das Rechtssystem ist viel zu schwerfällig, um Urheberrechts- oder anderen Rechtsverletzungen fix bestrafen zu können, was zum leidigen Abmahnverhalten geführt hat.

Auch die Internetindustrie ist nicht unschuldig. Ein mindestens ebenso großes Problem wie die ewige Verfügbarkeit einmal eingestellter Daten ist das Gegenteil: ihre Flüchtigkeit. Bis heute gibt es keinen allgemeinen "Freeze-Button" oder Einfrierungsknopf, der eine rechtswidrige Transaktion im Internet gerichtssicher dokumentieren könnte, damit eine Strafverfolgung möglich ist. Die Folge ist die noch viel leidigere Debatte um die Vorratsdatenhaltung - das anlasslose Aufzeichnen jeglicher Transaktion, die mehr Begehrlichkeiten weckt und mehr Missbrauchspotential birgt als alle gesammelte Information im Internet zusammen.

(Kleine Anmerkung: Auch die vorauseilende und umfassende Aufzeichnung jeglicher Tätigkeiten, nur um im Nachhinein eventuell eine Straftat feststellen zu können, dürfte im Widerspruch zu allem stehen, was in den letzten 2000 Jahren gegolten hat.)

Nicht zuletzt ist auch unser Bildungssystem nicht vorbereitet. Wo werden Kindern oder Erwachsenen "neue" Sozialkompetenzen oder Datenmanagement beigebracht? Lernt irgendjemand, dass man keine privaten Daten ins Netz stellen soll? Nicht mit jedem über alles chattet? Sich der Verknüpfbarkeit und Verkäuflichkeit von Daten im Netz bewusst zu sein? Gibt es Internetkompetenz als Lehrfach? Oder vielleicht noch besser "Kompetenzkompetenz": die Anleitung, in unserer schnellebigen Gesellschaft die nötigen Kompetenzen selbst zu erkennen und sich anzueignen? Ich wüsste nicht.

Sollen wir wirklich den Fortschritt verhindern, nur weil unsere rechtlichen, schulischen und technischen Rahmenbedingungen überkommen und wir zu träge sind, sie an die Entwicklungen der Gesellschaft anzupassen?

Ich hoffe wirklich nicht, dass die Allgemeinheit so denkt.


[1] SWR2, 3.7.2010: Interview der Woche: Thomas de Maizière, Bundesinnenminister (Transkript)
Schlagwort: Fadenschein

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