Montag, 5. Juli 2010

Das deutsche Siegerproblem

Schlechter Traum.
Es ist Samstag abend. Ich bin auf der Ausfallstraße meines Dorfes unterwegs. Plötzlich springen mir drei Kinder vors Auto. Mit Deutschlandfahnen. Ich bin so mit Vollbremsen beschäftigt, dass ich nicht mal zum Hupen komme. Es wäre auch sinnlos gewesen. Niemand hätte micht beachtet in dem allgemeinen Hupkonzert.

Nach dem ersten Schreck überlege ich, ob ich aussteige und den Kids die Flötentöne geige. Ein Pulk Erwachsener, unter denen ich ihre Eltern vermute, steht keine 20 m entfernt. Alle grinsen fröhlich. Mit Deutschlandfahnen. Ich fahre dann doch lieber weiter. Geigen gegen Vuvuzelas sind keine gute Idee.

Autofahrer vor mir fahren kollektiv in Schlangenlinien auf die Gegenfahrbahn. Der Kreisverkehr ist minutenlang mit im Kreis fahrenden Mitbewohnern blockiert. Auf Lichthupe und Hupe als Warnsignal kann man getrost verzichten. Erwachsene Menschen halten mir wie in der Geisterbahn Stoff vors fahrende Auto. Alles mit Deutschlandfahnen.

Es ist unübersehbar: Deutschland die deutsche Nationalmannschaft hat ein Viertelfinalspiel bei der Weltmeisterschaft im Herrenfußball gewonnen.

Dass ich kein Fußballfan bin - geschenkt. Dass ich als Aspie das Konzept von "Sau raus lassen" nicht verstehe - ebenfalls geschenkt. Die Absurdität, dass völlig unbeteiligte Menschen einen Sieg feiern, weil ein paar hochtalentierte Millionärbubis ihren Arbeitsvertrags erfüllen - obendrein geschenkt.

Dass mir das kollektive Fahnenschwenken wegen gewisser Erfahrungen mit zwei Diktaturen ein Graus ist - von mir aus auch geschenkt.

Mit der Gefährdung anderer, und erst recht der Kinder durch die Verletzung der Aufsichtspflicht, hört für mich der Spaß jedoch auf. Gibt es keine Fanmeilen, wo sie feiern können? Keinen Garten, wo sie um den Grill hüpfen können?

Ist unsere Gesellschaft wirklich schon so reizüberfrachtet und abgestumpft, dass wir Freude nur noch durch Regelübertretungen ausdrücken können?

Ich mag Deutschland. Wenn ich mit dem Flugzeug über unsere Landschaft fliege und die grünen Wälder, akkurat bestellten Felder und verstreuten Dörfer sehe, bin ich glücklich, heute in einem der besten Länder der Welt zu wohnen. Aber für unser gemäßigtes Klima können wir nichts, und ein Viertelfinalsieg im Fußball ist für mich kein Grund zum Stolz auf dieses Land.

Fortschritte in der Hochtechnologie, intensive Grundlagenforschung, soziale Errungenschaften, Gerechtigkeit, Integration, Frieden, Sicherheit, Bildung ... da ist so vieles, was in Deutschland gut ist und noch besser gemacht werden könnte.

Und worüber es sich lohnen würde zu jubeln.

Mulmiges Gefühl
Aber einen deutschen Sieg im Auslang mit Nationalfarben und Fahnenschwenken feiern? Sind wir Deutschen reif genug dafür?

Wir sind vielleicht gute Philosophen, Literaten, Forscher und Ingenieure. Aber mit dem Nationalgefühl konnten wir noch nie richtig umgehen. Nicht 1871, nicht 1914, nicht 1939.

Dass ich mit dem unguten Gefühl nicht ganz falsch liege, sehe ich an der aufgebrachten Geste, mit der mir ein T-Shirtträger im mittleren Alter seine Deutschlandfahne hinter dem Auto herschlägt, als ich regungslos durch die Menge fahre. Ich kann das, weil ich Aspie bin, und ich tue das, weil ich mich politisch seit jeher neutral verhalte.

Aber was sollte diese Geste? Dass ich jemandem die Freude verderbe, weil ich sie nicht teile, zeigt schon mal, wie oberflächlich sie ist. Ich meine jedoch, da steckt mehr dahinter. Wenn Neutralität - oder die Verweigerung des Gruppenzwangs - zu solchen Aversionen führt, dann kommen wir langsam wieder an eine Stelle, an der Deutschland schon mehrfach gestanden hat und besser nie gestanden hätte. Oha.

Vielleicht sind Erfahrungen mit Diktaturen ja doch nicht so geschenkt.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

Bezug herstellen   > Mir etwas anheimstellen (4 Kommentare)