Der Kalte Krieg, die Erfolglosigkeit der Volksaufstände, die graue Tristesse des eingeengten Lebens - das alles erschien mir ewig und unumstößlich.
Der Fortschritt wurde dauernd proklamiert, aber echter Fortschritt braucht keine Proklamation, nur solcher, der den erlebten Verfall umdeuten muss.
Die Kultur wurde fortwährend proklamiert, aber echte Kultur benötigt keine Proklamation, nur solche, die Unabhängigkeit im Denken und Schönheit im Fühlen verachtete.
Die Volksherrschaft wurde ständig proklamiert, aber echte Volksherrschaft benötigt keine Proklamation, nur solche, die kaschieren muss, wie ein Volk durch Einheitspartei und Primat der Sowjetunion mundtot gemacht wurde.
Der Sieg des Sozialismus wurde anhaltend proklamiert, aber echte Siege müssen nicht proklamiert werden, nur solche, die umfänglich durch Reiseverbote, Mangelwirtschaft und Geheimpolizei charakterisiert sind.
Die Menschen wollten reisen, sie wollten Zitrusfrüchte, sie wollten Coca-Cola, lustige Aufkleber, schnittige Autos, bunte Wäsche, haltbare Dachziegel fürs Haus. Sie wollten Überfluss, nicht Mangel, und freie Auswahl statt Einheitsware (neudeutsch: statt Alternativlosigkeit).
Was sie abschaffen wollten, war nicht ihr Staat, sondern die Verlogenheit des Systems, die selbstgewollte Taubheit und selbstverschuldete Blindheit des Staatswesens gegen die Realität, das ihnen alles vorenthielt, was der Klassenfeind spielend erreichte, und den Verzicht noch als das Ziel verkaufte.
Und außerdem war da noch eine Rechnung offen mit der Sowjetunion, diesem machtseligen und gewaltverherrlichenden Gebilde, von asiatischen Weiten und dem Kampf gegen mächtige Naturgewalten zum Gigantismus und Absolutismus (im Wortsinn) getrieben; ein Staat, dem schon Lenins verzwirbelte Thesen fremder waren als ein zünftiges Zaren-, Kulaken- und Verrätermorden, und dessen völlig selbstverständliche Ignoranz gegenüber der deutschen Enge in Leben und Denken einem ständig ins Bewusstsein zurückrief, dass eben nicht der Bessere, sondern der Stärkere gewinnt.
Andererseits: wer hinter die westliche Fassade aus Südfrüchten und bunter Werbung schaute, erkannte auch, dass der vermeintlich erfolgreichere Gegenentwurf seine eigenen Krisen hatte. Ebenfalls nicht ideologische Krisen, sondern banale, vom Ölpreis, Monopolisierung und dem Primat der Wirtschaftlichkeit diktierte, und die Freiheit unter der Bedingung stand, für den anderen Besatzer die Beine breit zu machen.
Das ist flach und banal, aber so ist es. Dafür akzeptierten die Deutschen auch Opfer: im Osten waren die Internierungslager für Aufständische schon eingerichtet, inklusive Verteilungsschlüssel - das hätte für 86 000 DDR-Bürger übel ausgehen können. Und auch der Westen brachte (und bringt bis heute) Opfer, wenn auch vorrangig finanzielle, für die Einheit - der Soli ist darunter nur besonders auffällig.
Aber diese Opfer wurden keiner Ideologie gebracht - Menschen sind hedonistische Egoisten, und die meisten wollen einfach nur gut leben und frei und unbedroht sein. Dafür akzeptieren sie jede Ideologie, die ihnen das einigermaßen bietet oder vorflunkert, doch ihr Inhalt ist ihnen egal. Für Ideologien kämpfen nur diejenigen, die auf Kosten dieser Mehrheit leben wollen.
Ganz gleich: die Deutschen hatten das Trauma der Trennung und Besatzung scheinbar überwunden oder begannen zumindest aktiv, es zu überwinden, und waren's zufrieden.
Schon der unterschwellige Rassismus dieser Aussage führt zu erhobenen Augenbrauen. Aber dessen unbenommen: Wer außer den Deutschen hatte denn Anteil am Trauma der Staatstrennung und des Souveränitätsverlusts, und den Willen beides ungeachtet der Konsequenzen zu überwinden? Die Italiener, Griechen und Türken auf der einen Seite und die Vietnamesen auf der anderen Seite kamen ja nicht ins Land, um den Schutt wegzuräumen und den Deutschen die Psyche zu heilen, sondern um besser zu leben als bei sich zu Hause (auch wenn sich das nicht für jeden erfüllt hat), und auch ein bisschen deshalb, weil sie, genau wie die Deutschen, ihrerseits Spielbälle ihrer Systeme waren und sind.
Es sind "russischsprachige Eltern", die in den 90ern flugs die Seiten wechselten und dann vom Sozialsystem eines Staates profitierten, dem sie nie Abgaben gezahlt hatten.
Es sind "Schwarze Menschen" (Selbstbezeichnung), die also aus ehemaligen britischen, französischen und italienischen Kolonien kommen und deren Kolonisatoren allesamt die Wiedervereinigung Deutschlands ausdrücklich mit Argwohn bis hin zu Ablehnung verfolgten.
Es sind Hilfsverbände für Syrer, denen wohl unterstellt werden muss, dass sie aus der damaligen Bereitschaft der Deutschen, für ihre eigene Einheit zu kämpfen, einen Anspruch für die Alimentierung von Syrern ableiten, nur mit der Abweichung, dass jene den Anspruch haben, ihre Vielfalt zu erhalten, statt als Bringschuld einen Beitrag für die Einheit zu leisten.
Es sind Leute, die ihre Interessen mit englischen Floskeln codieren; die behaupten, für "20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund" zu sprechen, welche den geistigen Spagat schaffen, Deutschland als ihre "Heimat" zu beanspruchen, sich aber sogleich unter der Losung der "Vielfalt" (als Gegensatz zur Einheit) wieder abzugrenzen und ihre abweichende "Identifikation" in den Vordergrund zu stellen.
Und dass faz.net von diesem Appell reichlich irrelevanter Organisationen (obwohl z.T. auf der Gehaltsliste diverser Ministerien) ohne jegliche Not und Einordnung berichtet, legt nahe, dass sich die Deutschen diesen Schuh anziehen lassen werden.
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