Beim ersten Fall sexueller Belästigung, an den ich mich erinnern kann, war ich, männlich, 15 Jahre alt. Ich war im Schülerpraktikum in ein Büro geraten, in dem es nur Frauen gab. Eine von denen - Altersdifferenz: 20 Jahre - wurde zudringlich. Ich saß vor dem Bildschirm, sie lehnte sich vor und drückte mir ihre Brust an die Schulter. Wann immer sie mir was erklären wollte.
Wenn Sie zufällig weiblich sind, dann stellen Sie sich einfach vor, Sie säßen mit 15 im Matheunterricht und müssten jedesmal spüren, wie Ihr Lehrer seinen Penis an Ihren Arm drückt, wenn er neben Ihnen steht. Als Aspie habe ich schon so Probleme mit dem Berührtwerden, aber wenn mir die Berührung mit sekundären Geschlechtsteilen anderer Personen aufgezwungen wird, dann ist das sexuelle Belästigung.
Ich habe damals nichts gesagt. Ich war baff von der Frechheit - und was hätte ich auch sagen sollen? Sie hätte es als Zufall bezeichnen können oder mich beschuldigen, dass ich sie angerührt hätte, oder sich über meine pubertäre Phantasie lustig machen können ... nein, da gab es keine Möglichkeit, heil herauszukommen. Also: hinnehmen.
Und heute? Es hat sich nichts geändert. In allen Stationen meines beruflichen Lebens hat es immer mindestens eine Frau gegeben, die am Arbeitsplatz auf Tuchfühlung ging. Beliebteste Form: mir vor dem Bildschirm die Brüste an die Schulter drücken.
Ich könnte in diesem Fall wegrücken. Sie rücken nach. Sie machen es so offensichtlich, dass Kolleginnen sie tadeln: „Hör auf damit”. Keine Besserung. Ich empfinde das nicht nur als sexuelle Belästigung, sondern auch als intellektuelle Beleidigung. Ich bin Frauen gegenüber gewiss nicht unfreundlich, aber mein Interesse weckt man mit inneren Werten (am besten im Kopfinneren). Und wenn sie dieses Interesse dann nicht wecken können, bleibt den Frauen nichts anderes, als mich körperlich zu bedrängen in der Hoffnung, dass dann meine tierischen Instinkte anspringen oder was?
Immer, wenn wieder mal das #aufschrei-Tag bemüht wird, muss ich an die Belästigungen durch die unterbefriedigten Frauen in meinem Arbeitsumfeld denken. Leider war es kein Aufschrei einer sexuell Belästigten, sondern von einer Person, die den Intellekt anderer Leute beleidigt. „[...] wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen” fragt die junge Frau, selbst keine 2 Jahre aus der Journalistenschule entlassen, den ehemaligen Wissenschaftler, Abgeordneten, vielfältigen Landes- und zuletzt auch Bundesminister, seit 40 Jahren in der Politik.
Eine intellektuelle Beleidigung ohne Gleichen. Eine ernstzunehmende Journalistin hätte nach Inhalten, Vorhaben, Zielen seiner Kandidatur gefragt - aber sie will irgendwelche Gefühle hören. Sie ignoriert seine Erfahrungen und Verdienste aus seiner beruflichen Laufbahn - seinem Leben - und thematisiert nur sein Rentenalter. Als er den Spieß umdreht - er spricht über ihr U30-Alter (die Frage nach Verdiensten hätte vermutlich peinlich werden können) - ist das für sie plötzlich „etwas anderes”. Und so deplatziert ihre Frage nach seinen Gefühlen, so ist es sein Kompliment über ihre Körperform. Sie interpretiert es sexuell und tut, was mich auch bei Frauen nicht mehr überrascht: sie achtet seine Selbstbestimmung nicht. Weder seine informationelle (das gesprochene Wort), noch seine - nach ihrer eigenen Interpretation - sexuelle (nämlich ein Kompliment nicht an die große Glocke gehängt zu wissen).
Sie haben in mir einen Fürsprecher für die Unantastbarkeit der Würde und der Körper aller Menschen, das können Sie mir glauben. Dafür stehe ich als Aspie. Und dazu gehört zu unterstreichen, dass man überhaupt nicht Frau sein muss, um seine körperliche und sexuelle Selbstbestimmung missachtet zu bekommen. Ein #aufstand wäre passend gewesen, kein #aufschrei. Aber dafür ist es jetzt 2 Jahre zu spät.
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