Montag, 24. Januar 2011

Über digitale Analogien

Haha, da hat ein Informatiker einen „digitalen Radiergummi“ vorgestellt, mit dem man die freizügigen Fotos von seinem letzten Vollabsacker aus dem Internet löschen kann ... herrlich, sage ich Ihnen!

Nein, da verlinke ich jetzt nicht drauf. Ich bin mir sicher, dass der Kollege da grad eine Satireveranstaltung abzieht und seinen staatlichen Auftraggebern unverholen den Allerwertesten zeigt für ihre Naivität, so ein hirnverbranntes Projekt überhaupt in Betracht zu ziehen und in Auftrag zu geben.

Leute, ich weiß, es ist schwer, aber bitte-bitte: Stellt Euch bitte nicht so an und hört endlich auf, Phänomene in der digitalen Welt mit analogen Analogien beschreiben und bekämpfen zu wollen. Das ist im besten Falle sinnlos, im peinlichsten Falle lächerlich, und im schlimmsten Falle gefährlich.

Gefährlich, weil es die Menge der Bevölkerung im Glauben lässt, sie sei den Anforderungen des Internet gewachsen, wenn sie nur ihre bisherige Chuzpe nicht verliert. Das ist falsch!

Zum Beispiel hat diese fehlende Einsicht bisher eine konsistente Regulierung des Internetrechts staatlicherseits verhindert. Bisher schwanken Legislative und Exekutive zwischen zwei Extremen: dem laisser-faire und der absoluten Kontrolle. Das ist so, als würde man jeden ohne Altersbegrenzung oder Fahrerlaubnis mit dem Brummi durch die Dörfer jagen lassen, andererseits aber von allen Ihren Bewegungen einen GPS-Track anlegen und speichern lassen, damit man Ihnen am 90. Geburtstag noch nachweisen kann, wie Sie Rüpel als Teenie mal am Stoppschild nicht angehalten haben.

Ich finde aber, dass das dem Staat gar nicht anzulasten ist, solange die Bürger, die er repräsentiert, noch nicht reif genug sind, um mit dem Internet umzugehen.

Wie ist das so mit Ihnen?

Hinterlassen Sie schlecht überlegte Frotzeleien im Kommentarbereich von Heise oder GMX? Laden Sie Ihre Nacktfotos auf Picasa? Kopieren Sie ihre Hausaufgaben oder Zeitungsartikel von fremden Quellen? Erzählen Sie auf Livejournal über ihre Selbstmordfantasien? Schenken Sie Facebook alle ihre persönlichen Daten, Freundschaften und Vorlieben? Erzählen Sie Google über die Suchzeile alles, was Sie interessiert? Erzählen Sie über Twitter der ganzen Welt, dass Sie grad nicht zu Hause sind?

Nein? Glückwunsch. Es gibt eine Chance, dass Sie sich im Internet ganz gut zurechtfinden.

Auf diejenigen, die nach einem digitalen Radiergummi schreien, trifft das offenbar nicht zu. Sie leben wohl in einer Art Traumwelt, wo man mit dem Auto vorsätzlich zehnmal in die Leitplanke fahren kann und das ganze dann mit Strg+Z wieder rückgängig machen kann, sobald man das nicht mehr lustig findet. Auf sowas kann man eigentlich nur mit einer Verhöhnung antworten wie mein Kollege aus Saarbrücken.

Allerdings muss ich hier noch was einschieben. Wenn ein Arbeitgeber einen Bewerber wegen im Internet dokumentierter Entgleisungen am Wochenende nicht einstellt, oder Journalisten wegen vor Jahren begangener Fauxpas' bei keinem Verlag mehr einen Fuß in die Tür bekommen, dann verhält sich die andere Seite der Internetnutzer, die ihnen hinterherschnüffelt, nicht minder unprofessionell. Und zwar auf so vielen Ebenen, dass ich es hier gar nicht aufzählen kann (schreiben Sie mir, dann kommt es in die Kommentare oder einen neuen Beitrag).

Will sagen: wer das Internet als Rezipient nutzt und alles darin Gefundene auf die Goldwaage legt, obwohl er weiß, dass das Netz „nichts vergisst“, während Menschen sich weiterentwickeln --- der kann eben auch nicht damit umgehen.

Das Internet erlaubt keine Analogien. Einen kollektiven, widersprüchlichen Fundus gesamtmenschheitlicher Ansichten und Absichten, der stets und global verfügbar ist und nichts vergisst --- das gab es eben früher nicht. Wir müssen es als etwas Neues begreifen lernen und nicht versuchen, es mit Analogien in unseren bisherigen Erfahrungshorizont einzugliedern.

Nur dann haben wir eine Chance, der Geister Herr zu werden, die alle und niemand so richtig gerufen haben.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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