Montag, 29. November 2010

Die dreckige Wäsche der Diplomatie

Soso, Wikileaks veröffentlicht den Inhalt von Depeschen mit den Lageberichten von Diplomaten im Ausland.

Ich scheine als Aspie, Informatiker, Forscher usw. vielleicht prädestiniert dafür, „freie Information“ und alles, was mit Wiki- anfängt, gut zu finden. Das wäre aber eine unreflektierte Einstellung und sie ist - wen wundert's - genau deswegen häufiger unter den Normalos zu finden als untern den Aspies. Genau wie die völlig entgegengesetzte Meinung, nämlich, dass das alles Teufelszeug sei.

Zu den Depeschen also:

Natürlich sollte man durchaus die Wahrheit sagen. Aber man muss auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Wenn ich einen Kollegen inkompetent nenne, und das kommt raus und ich kann es nicht beweisen, bin ich diskreditiert und kann eigentlich nichts anderes tun als meinen Hut nehmen. Das ist bitter, aber damit ist die Sache beendet. (Und meine Karriere auch - naja, anderes Thema).

Doch auf zwischenstaatlicher Ebene funktioniert das so nicht. Nicht umsonst gibt es die Diplomatie, die durch die Einhaltung formeller Regeln dafür sorgt, dass selbst „verfeindete“ Länder miteinander verkehren können. So können sie Interessen wahren, Übereinstimmungen finden oder größeres Übel abwenden - ohne das Gesicht zu verlieren oder von ihrer öffentlichen Position abzurücken. Natürlich weiß jeder, was der andere über ihn denkt. Wenn sich beide Seiten trotzdem auf den Minimalkompromiss des Protokolls einlassen, kann man wenigstens geordnet miteinander auskommen.

Diese nützliche Übereinkunft wird durch die Veröffentlichung der Depeschen ohne Grund verletzt. Die veröffentlichten Einschätzungen der Diplomaten sind vielleicht objektiver als jede Pressemitteilung. Zurechnen lassen muss sie sich jedoch die auftraggebende Regierung. Und die kann nicht einfach die Konsequenzen ziehen, den Hut nehmen und verschwinden (was allerdings wohl dem Diplomaten blühen wird). Wie stellt man sich denn bei Wikileaks die internationale Zusammenarbeit nach der Veröffentlichung der Depeschen vor? Wem ist gedient damit, wenn Diplomaten nicht einmal ihren Dienstherrn gegenüber ein realistisches Bild der Lage zu zeichnen wagen?

Und mal ehrlich: Glauben Sie, die Berichterstattungen der deutschen Diplomaten über ausländische Regierungen (sagen wir, z.B., den ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten) seien diplomatischer ausgefallen? Glauben Sie, dass Drittstaaten sich weniger darüber mokieren, wenn ihre Verhandlungspartner ihre eigennützigen Interessen nicht unterstützen, als die USA? Wozu auch? Solche Interessen zu verfolgen ist jedermanns gutes Recht. Der Mediamarkt stellt Sie ja auch nicht an den Internetpranger, weil Sie wiedermal das allerbilligste Gadget suchen.

Worin also besteht Wikileaks' Fehler? In der Einschätzung, warum die Depeschen vertraulich waren.

Sie waren nicht vertraulich, weil ihr Inhalt geheimes Wissen darstellt. Im Gegenteil: Wenn wir herzlich über den Wiedererkennungswert des Inhalts lachen und den Eigennutz der USA in ihnen erkennen, handelt es sich dabei wohl eher um öffentlich verfügbares (wenn auch unausgesprochenes) Wissen.

Sowas braucht man nicht über Wikileaks veröffentlichen. Das missachtet das diplomatische Protokoll und schafft Misstrauen ohne Grund.

Wirklich geheime Information zu veröffentlichen, deren Offenbarung der gebildeten Öffentlichkeit zu neuen Einsichten verhilft - das wäre etwas anderes gewesen. Und ich dachte eigentlich, das wäre der Zweck hinter Wikileaks gewesen. Stattdessen wird Boulevardklatsch veröffentlicht. Na, danke. Das ist ein Cablegate für Wikileaks, nicht für die USA.

Ach, und übrigens: Wenn jetzt von großem Schaden geredet und Wikileaks deswegen angegriffen wird: das ist DIPLOMATIE! Eigennutz! Protokoll! Gesichtwahren! Take it with a grain of salt.

Schlagwort: Fadenschein

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