Ein kostenloses Konzert mit Evgeny Kissin, wie cool ist das denn? Dachte ich mir, als der Bundespräsident ein Mittagskonzert im Schloss Bellevue mit den Berliner Philharmonikern ankündigen ließ. Bei Kissin ist mir egal, ob das eine politische Veranstaltung ist, das will ich sehen.
Aber Moment mal, Kissin ... die Berliner Philharmoniker ... und Schloss Bellevue? Es sind gefühlt genauso viele Zuhörer anwesend wie Musiker. Als Kisin wäre ich mir veräppelt vorgekommen. Aber er hat wohl schon alles gesehen im Leben und hat die Größe, Reife und Professionalität, auch in diesem Hinterzimmer Chopins beste Polonaise virtuos vorzutragen. Nur die Seele fehlte (noch).
Dann die Arie des Jelezki aus Pique Dame ... zum Glück können die meisten Anwesenden kein Russisch und müssen nicht verstehen, wie der servile Fürst seiner Lisa schon vor der Hochzeit den Blancocheck für Seitensprünge ausstellt. Ironie wäre, darin eine Anspielung auf den Westen zu sehen, wie er bei allen Ungehörigkeiten Putins die Augen zuzudrücken verspricht. Sarkasmus wäre, Lisas Ende im nächsten Akt als Handlungsempfehlung verstanden zu wissen. Realismus ist, dass es wohl keinen russischen Tenor gab, der sich ein für allemal die Karriere in Russland verbauen möchte und z.B. das viel passendere "Wohin, wohin" aus Eugen Onegin hätte singen können.
Transzendenz tritt dann plötzlich bei Schostakowitsch auf. Kissin brillant in der Selbstrücknahme, Schostakowitsch steht mitten im Raum: Wenn Selbstdarstellung und Realität weit auseinanderliegen, verfolgt man immer den, der mit dem Finger draufweist, und sei es nur durch Musik. Das trifft auf Russland wie auf den Westen zu, und so war das Klaviertrio das einzig aktuelle Stück an diesem Mittag.
Damit will ich gar nicht den Beitrag von Walentyn Sylwestrow kleinreden. Er hat schon in der Sowjetzeit sein Päckchen zu tragen gehabt, und im Alter von 84 Jahren sollte niemand vor den vermeintlichen Erben jener Zeit um sein Leben fliehen müssen. Seine Zugabe, eine Komposition (nicht doch eher eine Improvisation?) auf seine Eindrücke bei der Flucht aus Kiew aber machte deutlich, wie dumm der Titel der Matinée eigentlich gewählt war. Wenn die Bomben sprechen, dann packt die Musik die Koffer und flieht. Sie hat nichts entgegenzusetzen (Bibelfeste mögen mir verzeihen). Wären Selensky und Putin dabeigewesen, sie hätten beide herzlich gelacht ob des Anspruchs, durch dieses Konzert etwas für Freiheit und Frieden getan zu haben. Das muss auch der eingeladene, aber abwesende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk so gesehen haben, der dazu verlauten ließ, keinen Bock auf große russische Kultur zu haben, dem man aber unterstellen muss, angesichts der beteiligten prominenten Künstler, die sich immerhin öffentlich gegen den Krieg geäußert hatten, gar keinen Bock auf irgendeine Kultur in diesem Sinne zu haben.
Ob er sie denn ausgerechnet an diesem Ort gefunden hätte, ist fraglich. Das ließ sich schon am Äußeren ablesen. Ein Präsident einer Demokratie muss in einem Schloss hausen, weil die Generationen danach nichts dauerhaft Schöneres fürs Auge und Gemüt zustandegebracht haben. Gespielt wurde auf Instrumenten, die seit hundert oder zweihundert Jahren nicht mehr verbessert werden konnten (oder gar selbst so alt waren). Und das nicht von Mitteleuropäern, die haben das Interesse und Verständnis daran längst an Osteuropa, den Nahen Osten oder gar Japan abgegeben. Moderne Elemente in diesem Ensemble: die Hochleistungsmikrofone, deren Verkabelung lieblos durch die Gegend geworfen, stellenweise mit Stolperschutzmatten überbrückt wurde. Diese Moderne hat uns überhaupt nichts mitzuteilen, nicht direkt, und wenn metaphysisch, dann will ich die Nachricht gar nicht hören.
Und überhaupt... ja, gibt es in Berlin nicht drei Opernhäuser wo man dieses Event hätte groß aufziehen können? Müsste so ein Konzert, solch ein Bekenntnis zu Freiheit und Frieden nicht dort oder viel besser vor der Siegessäule, unter Einbezug der Massen stattfinden? Oder war das dann doch zu viel Aufwand für Frieden und Freiheit? Oder war Corona wieder stärker als das Bekenntnis zu ihnen?
Oder war es genügend für einen PR-Stunt des Bundespräsidenten? Der konnte wegen Corona nicht persönlich anwesend sein, und die Matinée wurde daher passenderweise zu einer Art Privattherapie für Walentyn Sylwestrow, der dort auch mehr zu suchen hatte als F.W. "Sicherheit in Europa nicht ohne Russland"; und "Kosovo ist unabhängig" Steinmeier.