Mittwoch, 3. Februar 2016

Rainman hat's nicht kapiert

Ich bin einigermaßen enttäuscht. SWR2 Wissen hat heute eine Sendung zum aktuellen Stand der Behandlung für Autisten gebracht, und als Teilbetroffener entsetzt mich die Ignoranz all der Therapeuten.

Am besten klappt noch die Anamnese:

  • Autisten mögen keine Berührung, die sie nicht selbst kontrollieren können
  • Sie können sich nicht in die Gedankenwelt ihres Gegenübers einfühlen, ja nicht mal eindenken
  • Sie verstehen nicht, warum Menschen Dinge sagen, die sie gar nicht meinen
Das kenne ich alles von mir selbst.

Die These aber, die für so selbstverständlich gehalten wird, dass sie nicht mal ausdrücklich formuliert wird, heißt: das muss alles wegtherapiert werden. Weil, sonst kommen sie in der Welt der Normalos nicht klar.

Es ist noch nicht lange her, da hat man dasselbe von Linkshändern geglaubt. Unzweifelhaft ist die Welt auf Rechtshänder ausgerichtet, unzweifelhaft sind sie in der Mehrheit und definieren damit die „Normalität“. Und dennoch – irgendwann haben selbst die Rechtshänder gemerkt, dass es eine Gemeinheit ist, Linkshänder umzutrainieren. Wöllte man, dass alle dieselbe Hand gebrauchen, könnte man auch die Rechtshänder alle zur Linkshändigkeit zwingen, denn per se ist keine der beiden Händigkeiten besser als die andere, und für den einzelnen Umerzogenen ist die Tragik dieselbe. Es wird von ihm etwas verlangt, (1) was er nicht können kann, (2) nur weil es die anderen können – nicht etwa, weil es nötig wäre.

Nun nochmal zu den drei oben genannten Punkten.

Gott sei Dank, hat sich wenigstens beim ersten Punkt was getan. In meiner Kindheit glaubten die Therapeuten noch, man müsse das Kind bewegungsunfähig an sich fesseln, damit es sich an Berührung gewöhnt. Ich könnte schreien, allein schon bei dem Gedanken. Welcher tiefere Nutzen liegt darin, Berührungen toll finden? Ich habe den Verdacht, dass auch die Normalos nicht in der Lage sind, sich in einen Autisten hineinzuversetzen, der keine Berührung mag. Oder sie können es und wollen es nicht, was noch schlimmer wäre.

Beim verlangten Einfühlungsvermögen sind wir noch nicht so weit. Im Radiobeitrag erzählt eine Therapeutin, wie sie einem Kind das Bild eines menschlichen Gesichts zeigt, dann umblättert und das Kind aus 36 Gesichtern dasjenige heraussuchen lässt, das den Menschen in einem speziellen Gemütszustand zeigt.

Ich halte das für eine seelische Grausamkeit dem Kind gegenüber. Sagen Sie einem Kind, es soll doch mal umherfliegen, und zeigen Sie ihm, mit welcher Leichtigkeit selbst die Spatzen das tun können – dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie es auf einen Autisten wirkt, wenn man von ihm verlangt, fremde Gefühle zu erkennen. Ich kann mich selbst noch an diese Ohnmacht erinnern, wenn ich solche Rätsel lösen sollte. An Gesichtern Gemütsbewegungen abzulesen ist etwas, das ich nicht kann, und bei allem Willen auch nicht erlernen kann. Ein Gesicht sagt mir nicht mehr als eine Betonwand, und selbst, wenn ich bei einem Gesicht lernen würde, wann es ein Gefühl ausdrückt – ich würde es beim nächsten Gesicht nicht wiedererkennen.

Wenn die Normalos also schon wissen, dass Autisten keine Gefühle erkennen können: warum quälen sie die Kinder dann damit, es doch zu tun? Und – welchen höheren Nutzen hat es? Dem Autisten fehlt nämlich überhaupt gar nichts, wenn er Ihre Gefühle nicht von Ihrem Gesicht ablesen kann: er vertraut seinen eigenen nicht, und er interessiert sich nicht für Ihre. Der in seinem Narzissmus gekränkte Normalo aber mag seine Gefühle nicht ignoriert wissen. Eigentlich ist er es, der mit dem Autisten nicht klarkommt und therapiert werden müsste - nicht umgekehrt.

Noch abstruser wird die Angelegenheit bei der täglichen Kommunikation unter Normalos. Der Radiobeitrag umreißt, was autistische Kinder verstehen, wenn Erwachsene sagen, sie seien in 5 Minuten wieder da: „Ein autistisches Kind wird das häufig sehr wörtlich nehmen und sagen, jetzt ist genau fünf Minuten und du bist immer noch nicht da. Oder du bist nach 7 Minuten 23 gekommen, aber du hast gesagt, du kommst nach fünf Minuten.“

Je, nun… Was ist falsch daran, Wörtliches wörtlich zu nehmen? Rein objektiv betrachtet: Zu sagen, man sei in 5 Minuten da, wenn man es weder kann noch es vorhat, ist sowohl Betrug als auch Hochstapelei. Es ist ja nicht so, als ließe sich das nicht auch anders ausdrücken: „Ich versuche, in etwa 5 Minuten wieder da zu sein, aber vielleicht wird es eher oder später“ wäre nicht nur möglich, sondern auch ehrlich und wirklichkeitstreu.

Aber wie selbstverständlich muss das autistische Kind lernen, mit den vorsätzlich ungenauen und unzutreffenden Aussagen der Umgebung klarzukommen. Normalos fassen sich nicht mal an die eigene Nase und überlegen, warum sie Dinge sagen, die sie nicht so meinen.

Aber vielleicht – vielleicht – wird der Autist irgendwann auch mal wie ein Linkshänder betrachtet: anders als die Mehrheit, mit einem völlig andersgearteten Satz an Fähigkeiten, den man aber so akzeptieren kann und nicht umerziehen muss.

Schlagwort: Aspie-Welt

Mir etwas anheimstellen

 
Interessanter Beitrag.
Deinen Text könnten sich einige Therapeuten und natürlich auch alle anderen Menschen mal durchlesen, um das mit dem Autismus besser zu verstehen.
Das Beispiel mit den Linkshändern ist sehr passend gewählt finde ich.

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Zum Glück setzt bei einigen im Autismusspektrum mit der Pubertät auch der Verstand ein, womit man kognitiv einiges wettmachen kann, wofür man sozial keine Ader hat.

Bis dahin, oder wenn dieser Wandel ausbleibt, haben die Therapien eh kaum einen Nutzen - außer womöglich für die Umwelt, die es dann etwas ruhiger hat.

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Diese Methoden hören sich wirklich grausam an. Ich kenne übrigens auch Leute, die keine Autisten sind und trotzdem nicht dauernd berührt werden wollen.

Ich finde es auch blöd, wenn Leute Dinge sagen, die sie nicht meinen. Man kann doch stattdessen die Klappe halten. Aber das ist nicht die gleiche Situation, wie das 5-Minuten-Beispiel, das man ja noch relativ einfach umgehen kann. Bei Redewendungen ist das schon etwas schwieriger.

Mehr Toleranz ist auf jeden Fall sehr wünschenswert.

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Ob das mit den 5 Minuten so einfach ist ... Wenn ich Ihnen sagen sollte, wann ich heute aus dem Haus gegangen bin, kostet es mich erheblich mehr, die Zeit auf die nächste Viertelstunde zu runden, als einfach die genaue Minute anzugeben. Und warum sollte ich auch einen runden Wert angeben, wenn ich den genauen weiß? - Sie dagegen interessiert die Minute gar nicht, und sie fänden die Antwort übertrieben genau und der Situation unangemessen.

Das Gehirn funktioniert hier, meiner Meinung nach, einfach verschieden.

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