Wie mein Haussender SWR2 wissen ließ, kommt diese Woche der Film „Suffragette – Taten statt Worte“ ins Kino. O-Ton: „Underdogs kämpfen unter Einsatz ihres Lebens für eine gerechte Sache, werden von mächtigen Politikern unterdrückt und siegen ganz am Ende doch.“
Es geht um die Einführung des Frauenwahlrechts in Großbritannien. Diese den Suffragetten zuzuschreiben ist allerdings ähnlich richtig, wie Günter Schabowski für den Mauerfall verantwortlich zu machen.
Denn was heute wie der Sieg des armen Kätzchens gegen den bösen Rottweiler klingt, oder zum Befreiungsschlag der Frauen gegen Tausend Jahre Patriarchat hochstilisiert wird - stimmt so nicht.
Vielmehr war das Frauenwahlrecht der Abschluss einer einhundertjährigen Entwicklung, durch die überhaupt die Mehrheit der Bevölkerung das Wahlrecht erhielt.
Der erste Schocker.
Bis 1832 hatten die Frauen ein Wahlrecht in Großbritannien. Echt, jetzt! Na gut, nicht alle. Eigentlich nur die, die kraft Vermögens und Herkunft (und Steuerzahlens) wählen durften. Weswegen überhaupt nur 4-5% der Briten wählen durften. Merke: Bevormundung vieler Armer durch wenige Reiche - nicht der Frauen durchs Patriarchat.
1832.
Okay, das war schlecht gelaufen. Laut „Reform Act“ von 1832 durften nur noch „männliche Personen“ wählen (außer in Schottland). Und zwar: unglaubliche 9% der Bevölkerung. Die Arbeiter blieben weiter außen vor. Bereits im selben Jahr gab es übrigens Eingaben, um das Frauenwahlrecht wiederherzustellen – obwohl es auch da nicht um die Arbeiterinnen ging.
1832-1912.
Da verging fast kein Jahr ohne Parlamentsdebatte übers Frauenwahlrecht. Es wurde zwar jedesmal abgelehnt, aber meist nur knapp: um die 60% stimmten dagegen, und auch Queen Victoria hielt nichts davon. Allerdings ging es auf anderer Ebene vorwärts: 1869 wurde das Kommunalwahlrecht für (ledige und vermögende) Frauen eingeführt („Municipal Franchise Act“), 1894 dann das Lokalwahlrecht auch für verheiratete Frauen mit eigenem Besitz („Local Government Act“).
Übrigens kämpften die Frauen damals keinesfalls für ein allgemeines Frauenwahlrecht. So wurde 1884 im Parlament angedacht, auch weniger gebildeten und vermögenden Männern das Wahlrecht angedeihen zu lassen. Die „Mistresses of Dulwich High School“ fanden in einer Eingabe vom 3. November 1884, dann sollten doch erst die „gebildeten und intelligenten Frauen, die Haushaltsvorstände sind“, das Wahlrecht bekommen. Die Arbeiterinnen waren auch ihnen egal.
1912.
Parlamentsdebatten über das Wahlrecht, wie jedes Jahr. Im Allgemeinen waren die konservativen Parlamentarier gegen und die liberalen für das Frauenwahlrecht – man höre und staune – obwohl das doch alles Männer waren.
Auch hier lohnt sich eine nähere Betrachtung, warum einige Konservative für und Liberale gegen das Frauenwahlrecht waren: Wie immer ging es nämlich nur um das Wahlrecht für vermögende Frauen – und das hätte den Konservativen, die keine tradierten moralischen Skrupel gegen politisierte Frauen hatten, nur genützt! Es blieb beim Klassenkampf.
1912-1918.
Warum die Suffragetten glaubten, durchs Einschlagen von Fensterscheiben zu ernstzunehmenden politischen Teilhabern zu werden, bleibt ihr Geheimnis. Fakt ist nur, dass die lautesten Frauenverbände während des Ersten Weltkriegs ihre Agitation weitgehend einstellten: Während die Männer an die Front mussten, wurden rückten Frauen in der industriellen Produktion nach und spielten so ihre Rolle im Krieg. Wer braucht da schon noch Wahlrecht (wobei die Wahlen während des Kriegs eh ausgesetzt wurden).
1918.
Neben allem anderen, was der Krieg auf den Kopf stellte, hinterließ er auch eine Männer- und Wählerlücke, denn selbst viele Kriegsheimkehrer durften aus formalen Gründen nicht wählen. Mit dem „Representation of the People Act“ von 1918 konnten dann 21,4 Millionen Menschen wählen: 13 Millionen Männer und 8,4 Millionen Frauen.
Um die Relation zu sehen: nicht nur 8,4 Millionen Frauen erhielten das Wahlrecht neu, sondern auch 5,3 Millionen Männer. Dies war ein Sieg nicht nur für Frauen, die nun über 40% der Wahlberechtigten stellten, sondern auch der Männer, von denen nun fast doppelt so viele, und nicht mehr nur die reicheren und sesshaften, wählen durften.
1928.
Das „Equal Franchise Act“. Endlich gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen. Das bedeutete im Ergebnis: 12 Millionen wahlberechtigte Männer und 14 Millionen wahlberechtigte Frauen – Frauen stellten also mehr als die Hälfte der Wähler (54%). Nichtsdestoweniger wurde dieses Gesetz mit 387 Ja- zu 10 Nein-Stimmen angenommen. Eine Unterdrückung sieht anders aus.
Fazit.
In der ganzen glorreichen Geschichte des Parlaments Großbritanniens – über 800 Jahre seit der Magna Carta - gab es tatsächlich keine 30 Jahre ganz ohne Frauenwahlrecht. Dagegen gab es über 700 Jahre ohne überhaupt ein allgemeines (Männer-)Wahlrecht: Wählen war Adeligensache.
Das allgemeine Frauen- wie auch Männerwahlrecht sind das Ergebnis einer dauernden geschichtlichen Entwicklung, die um 1830 in ganz Europa einsetzte und übrigens vorrangig von Männern betrieben wurde. Das Stichwort heißt hier Vormärz, die verschiedenen Revolutionen steigerten sich bis zu ihrer Niederschlagung 1849, wobei hunderte Männer ihr Leben ließen – ein wahrhaft höherer Blutzoll als der Olympe de Gouges‘.
Im Ergebnis kamen Deutschland 1871 und Großbritanninen 1918 zu einem allgemeinen Männerwahlrecht, und das allgemeine Frauenwahlrecht wurde in Deutschland 1918 eingeführt, in Großbritannien 1928 – nur 10 Jahre nach den Männern, und auf den Schultern der Männer.
Quellen: [1], [2], [3], [4]