Neulich (am 27. April 2015) so in den Stuttgarter Nachrichten: ein Interview mit Sabine Keitel von "Wikiwoman (sic!, aber das hat wohl die Redakteurin Sybille Neth so geschrieben) wissen mehr". Sie ist Referentin für den Bereich Frauen und Politik in der Landeszentrale für politische Bildung von Baden-Württemberg (deren Tatsachenverdrehungen ich hier thematisiert habe). Und als solcher gefällt ihr nicht, dass angeblich 89% der deutschen Wikipedia-Mitwirkenden Männer sind (oder 90% laut der Webseite der Landeszentrale).
Denn: Männer - das ist eben schlecht. "Mit den Autorinnen fehlen ... wertvolle Perspektiven." Perspektiven, oder zu deutsch Sichtweisen, in einem Lexikon? Da sind Männer natürlich noch nicht drauf gekommen.
Immerhin kennt die Referentin auch die Gründe dafür, warum weibliche Autoren in der Wikipedia mit Abwesenheit glänzen.
Okay, das sieht wie das erste wirkliche Argument aus, auch wenn nicht gleich klar ist, wer den Frauen diese Rolle zuschreibt. Was würden Sie tippen? Das Patriarchat? Dann haben Sie Ihren Einfluss maßlos überschätzt, Sie alter wütender weißer Mann. Die Frauen schreiben sich diese Rolle nämlich selbst zu. Besser als die geschätzte Referentin kann ich es nicht ausdrücken: "Bei Wikipedia geht es um das Wissen. Frauen fühlen sich davon wenig angesprochen." Danke, Frau Sabine Keitel. Für Sie kommt es auf ein entsetzend misogynistisches Frauenbild nicht an, wenn es darum geht, diskriminierende Projekte zu finanzieren. Hoffentlich hält Ihnen jemand mal die Studierendenzahlen der Unis in Baden-Württemberg vor die Augen, damit Sie sehen, ob sich nur 10% der Frauen von Wissen angezogen fühlen, oder ob das nur Ihnen so geht.
Denn die Referentin hält Wikipedia für ein "demokratisches Beteiligungsprojekt". Das ist faktisch Unsinn (stellen Sie sich vor, man dürfte Sie von politischer Mitwirkung ausschließen, weil das Ministerium sie für einen Rowdy hält - das geht bei Wikipedia, und das ist auch gut so, aber das ist keine Demokratie). Aber es ist auch theoretisch Unsinn. Wissen ist keine Mehrheitsangelegenheit, die demokratisch zu klären wäre.
Wo sieht die Referentin den Beitrag von Frauen in der Wikipedia? Es sind zwei Dinge.
Ach? Das setzte wohl voraus, dass a) es in einer Enzyklopädie Sichtweisen geben sollte, b) bisher vorrangig männliche Sichtweisen vorliegen und c) sich männliche von weiblichen Sichtweisen unterscheiden. Ich halte alle drei Behauptungen für unwahr. Wer sie für wahr hält, wünscht sich eine ideologische, keine objektive Wikipedia. Und für Ideologie gibt es genau einen Platz in der Wikipedia: im Artikel "Feminismus#Ideologie".
Zum Beispiel über die Frauen "politisch engagierter Ehepaare", wo nur der Mann erwähnt sei (als ob Eva Braun keine eigene Wikipediaseite hätte). Sprich: schreibt über Irrelevantes! Und dann? Wollen wir Frauen extra häufig mit der demotivierenden Erfahrung konfrontiert sehen, dass ihre Artikel an den Kriterien scheitern? Oder ändern die Relevanzkriterien und nehmen herablassend auch Irrelevantes in die Wikipedia auf?
Die Mitarbeit an Wikipedia ist freiwillig und wird einem in den seltensten Fällen persönlich gedankt. Etwas für Idealisten und Altruisten auf diesem Gebiet. Es ist völlig sinnlos, ein spezielles Geschlecht für vermehrte Mitarbeit gewinnen zu wollen. Wer will und kann, arbeitet von sich aus mit und hat dann sowohl die nötige dauerhafte Motiviation, als auch das nötige Wissen, und zweifelsohne die notwendige innere Distanz, um professionelle Artikel zu schreiben. Diese Qualifikationen sind übrigens geschlechtsunabhängig.
Wenn sich weit mehr Frauen als Männer dafür entscheiden, ihre Freizeit und Kraft für andere Ziele einzusetzen, als ausgerechnet für Wikipedia - dann haben sie dafür wahrscheinlich gute Gründe, und niemand ist berufen, das zu kritisieren.
Wem wirklich etwas daran liegt, dass Bildung sowohl von Männern als auch von Frauen vermittelt wird, womöglich im ausgeglichenen Proporz, der mag sich auch am Geschlechterverhältnis von Lehrern in Grund- und Mittelschulen abarbeiten. Das ist auch relevanter als die Wikipedia.