Zu meiner Schulzeit war es ein beliebtes Spiel in ausgefallenen Schulstunden, mich 50 Ziffern lange Zahlenreihen auswendig lernen und dan vor- und rückwärts aufsagen zu lassen. Eine Sache von ein paar Minuten, die immer mächtig Eindruck gemacht hat. Ob die anderen wirklich nicht dazu in der Lage gewesen wären, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich haben sie sich nur angestellt und sind eher an einer mentalen denn einer mnemotechnischen Hürde gescheitert und haben sich gar nicht erst drangewagt.
Aber wie geht das Auswendiglernen denn? Heute glaube ich, dass es mit Mustern zu tun hat. Ich verrate Ihnen jetzt etwas, wofür mich die Nicht-Aspies immer auslachen. Ich merke mir gar keine Zahlen. Ich merke mir auch keine Buchstaben. Ich merke mir keine Töne. Ich merke mir Farben. Jeder Buchstabe, jede Zahl und jede Tonhöhe verbindet sich in meiner Vorstellung unweigerlich mit einer Farbe. Man nennt das Synästhesie, also unwillkürliche Sinnesempfindungen beim Auftreten eines völlig unabhängigen Impulses.
Nun geht es ganz einfach. Die Ziffernreihe teilt sich von selbst in Blöcke auf, die sich leicht merken lassen: Zahlen, die Abstufungen derselben Farbe sind, Zahlen in Komplementärfarben, aber auch Primzahlen, Zahlen aus dem Einmaleins oder der Quadratzahlenreihe, ein Stückchen aus der Fibonacci-Folge ... Das einzige, was ich wirklich lernen muss, sind die Übergänge von einem Muster zum anderen.
Natürlich hat die Methode auch Nachteile. Manchmal bringe ich die Reihenfolge der Farben durcheinander und damit auch die Telefonnummer oder den Familiennamen. Ich verwechsle die Vornamen von Leuten, wenn sie farblich ähnlich sind, und vergesse sie, wenn die Farben gar nicht zu ihrem Äußeren passen. Mein absolutes Gehör bringt mich zur Verzweiflung, wenn ein Tenor ziegelfarben statt weiß singt, Verzeihung, wenn er das hohe c'' zum b' heruntertransponiert. Ansonsten sind größere Schäden jedoch ausgeblieben. Schade nur, dass mein Vorname so eine seltsame Farbmischung hat.
Und hier noch ein Stück Anamnese: Alle meine Verwandten mit AQ über 32 sind auch Synästhetiker. Allerdings hat jeder eine andere Farbzuordnung. Niemand sonst in der Verwandtschaft hat ein absolutes Gehör, daher habe nur ich ein Farbempfinden bei Tönen, während einige eine multiple Synästhesie aufweisen: Für sie sind Zahlen nicht nur farbig, sondern auch räumlich zueinander angeordnet. Die Nicht-Aspies unter uns schütteln nur den Kopf darüber.
Und, was sind Sie für ein Typ?
Farbmitempfindung mit Buchstaben:
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Farbmitempfindung mit Zahlen:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 0
Farbmitempfindung mit Tönen (ab dem c'):
c cis des d dis es e f fis ges g gis as a ais b h