Montag, 29. Juni 2009

Führerschein 2009

Stellen Sie sich vor, morgen würde folgendes Gesetz erlassen: Tempolimit für Autos in Höhe einer Pferdegeschwindigkeit, und man darf nur noch zentral gesteuert auf vorgegebenen Trassen fahren. Ausgedacht von Leuten, die schon mal in einem Auto mitgefahren sind, sich dabei aber mächtig gefürchtet haben und sonst wie seit jeher mit dem Pferdewagen bzw. der Dampflok-Eisenbahn fahren. Sie betonten, dass die Führer der neuen Gefährte sich verfahren oder von miesen Zeitgenossen falsche Wege gewiesen bekommen könnten, tatsächlich wollte man jedoch die drohende Arbeitslosigkeit aller Hufschmiede bzw. Kohleschipper verhindern. Außerdem befürchtete man die Vereinsamung und moralische Verirrung der Individualtouristen, die nicht mehr in Postkutschen oder Eisenbahnabteilen zusammengepfercht werden.

Lächerlich? Gewiss! Aus der Retrospektive können wir feststellen, dass Betrug durch falsche Wegweisungen weitgehend unbekannt ist; wer sich nicht verfahren will, verwendet Straßenkarten oder ein Navigationsgerät; das Aussterben tausendjahrealter Berufe ist leicht zu verkraften angesichts des wirtschaftlichen Erfolges der Autoindustrie, und die Vereinsamung nennen wir heute Individualismus und bemerken im Gegenteil, dass die Menschen das Auto benutzen, um sich mit Freunden und Verwandten zu treffen, die sonst zu fern für einen Kurzbesuch wären.

Regeln und Freiheit

Natürlich gibt es Regeln im Straßenverkehr. Wir haben den Führerschein, die StVO und die StVZO. Wir haben Verkehrsschilder, verkehrsberuhigte Zonen, Verkehrspolizei und Verkehrsüberwachung. Doch es bleibt im Maß und lässt uns nicht grundsätzlich an unserer bürgerlichen Freiheit zweifeln. Beim Führerschein zum Beispiel macht man eine Stichprobe in Theorie und eine in Praxis - und voilà, die Fahrerlaubnis ist Ihre bis an Ihr Lebensende. 99,9% Ihrer Geschwindigkeitsübertretungen werden nicht geblitzt, Ihr Auffahren auf eine Autobahn wird nicht protokolliert, und Deutschland ist keine zusammenhängende verkehrsberuhigte Zone.

Dagegen gibt es freigegebene Autobahnen, und die PS-Zahl dürfen Sie sich selbst aussuchen. Niemand verhindert, dass Sie Ihren Boliden nicht beherrschen, dass Sie die letzte Tankstelle verpennen, dass Sie zu dicht auffahren oder am Steuer einschlafen. Das geht, weil sich der Staat nicht anstellt: er stattet Sie mit einem Vertrauensvorschuss in Ihren gesunden Menschenverstand, Ihre Urteilsfähigkeit und Ihren Selbstschutzinstinkt aus und lässt Sie selbstverantwortlich in den Straßenverkehr eingreifen. Bestraft werden Sie erst, wenn wirklich was passiert ist oder Sie erwischt werden. Und wenn Ihr freundlicher Kfz-Händler Sie mit einem Montagsauto übers Ohr haut oder Ihr Versicherungsfritze Ihnen zu hohe Beiträge für die HPflV abknöpft, dann regeln Sie das natürlich nicht mit dem Verkehrsrecht.

100 Jahre später stellt man sich dagegen ungeheuer an, wenn es ums Internet geht. Genau wie das Auto fördert es den Individualverkehr, löst erbärmlich langsame und restriktive Formen der bisherigen (Informations-)Fortbewegung ab und zeitigt eine Schwemme von Erfindungen, die ihm vorrangig selbst wieder zugute kommen. Findige Leute stellen sich um oder erarbeiten neue Geschäftsmodelle, um an der Wertschöpfung der Entwicklung teilzuhaben. Die Jüngeren und Aufgeschlossenen unter uns halten uns an eine Quasi-StVO im Internet: Wir achten auf Zertifikate auf Shopping-Sites. Wir tippen die URL unserer Onlinebank per Hand in die Adresszeile. Wir schreiben keine sensiblen Informationen in unverschlüsselte E-Mails. Wir meiden virenverseuchte Sex-Sites. Wir öffnen keine Dateianhänge mit der Endung ".bat". Wir trauen weder dem verzweifelten nigerianischen Banker noch dem krebskranken Kevin noch überhaupt irgendwem im Netz wirklich über den Weg. Bei Anwendung desselben Quäntchens Menschenverstands würde einem im Straßenverkehr durch irgendeinen Deppen mehr passieren als das im Web jemals möglich wäre.

Angst-beschwörer

Aber ein paar Pferdekutschen- und Eisenbahnfahrer haben mächtig Angst. Sie verstehen das Konzept des Internets nicht, sie können seine Perspektiven nicht gegen zu erwartende Verluste abwägen, und sie missachten die menschliche Veranlagung, die durch das Internet plötzlich in geballtem Maße an die Oberfläche tritt.

  • Sie wollen uns billigst herzustellende digitale Tonträger verkaufen und sind entsetzt, dass wir digitale Daten wie digitale Daten behandeln.
  • Sie wollen, dass Bewertungs-Seiten wie Spickmich nur mit "Widerspruchs-, Gegendarstellungs- und Transparenzrecht" existieren dürfen.

He, es gibt sowas wie das WWW, da kann man Gegendarstellungen nach Herzenslust veröffentlichen. Es gibt sowas wie Bewertungskonsumenten, und die stimmen über intransparente Bewertungen schon von selbst mit den Füßen, ääh, mit dem Mausklick ab. Und es gibt sowas wie das Real Life, da kann man am besten für positive Bewertungen sorgen.

  • Sie wollen, dass wir uns alle weiter liebhaben, obwohl das schon immer eine Illusion war - ganz oben in Politik und Wirtschaft wie ganz unten in den Familien. Jetzt kommt die ungeschminkte Wahrheit in Form von Kindesmissbrauchsbildern, Polit-Satireseiten und Phishing-Sites an die Oberfläche des Netzes, und sie möchten ein weißes Tuch drüberlegen oder ein Schild davorstellen, damit keiner hinguckt.

Aber holla, das Internet war noch nie ein rechtsfreier Raum. Was bisher verboten war (KiPo, Betrug) bleibt auch ohne spezielles Internetrecht verboten. Die Impressumspflicht bzw. die Domainregistration reichen zur Strafverfolgung genauso aus wie ein Kfz-Kennzeichen. Oder verlangt irgendein Gesetz getönte Scheiben, damit kein Pädophiler beim Kindesmissbrauch im Auto zusehen kann? Und was erlaubt ist, bleibt erlaubt. Satire und Meinungsäußerung waren noch nie der Wahrheit und dem Anstand verpflichtet. Das Netz hat sich mit der Netiquette und sowas wie Websites, deren Besuch man auch bewusst bleiben lassen kann, längst selbst geregelt. Wenn ich zum Frankfurter Hauptbahnhof gehe, muss ich an Nutten und Fixern vorbeilaufen. Im Netz sage ich "frankfurt.de" und bleibe unbehelligt. Wo ist jetzt die Gefahr für mein Kind?

Ich wäre für eine Bildungsoffensive. Internetführerschein für jeden! Dann können wir uns die ganze Sperr-, Schutz- und Angstdiskussion sparen, genau wie die Ressourcenverschwendung, die dahintersteht. Jeder bleibt für sein Handeln selbst verantwortlich und bekommt nur dann auf die Finger, wenn er gegen geltendes Recht verstößt und dabei erwischt wird. Niemand wird von vornherein unter Generalverdacht gestellt. Wir bestrafen weiter das Bombenzünden und den Serverhack, nicht die Bauanleitung oder den Besitz des Portscanners (und verlangen auch vom "Staat" darüberhinaus nichts). Und das beste: mit einem genauen Wissen der Funktionsweise von Netz und Netzgesellschaft machen wir uns fit für die gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen, die es sowieso gibt. Stellt Euch nicht so an.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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