Montag, 15. August 2011

Die zufällige Welt

Aspies wundern sich immer wieder über die Selbstverständlichkeit, mit der die Normalos ihre Welt für das Maß aller Dinge halten und nicht hinterfragen. Nehmen wir so Dinge wie das Händeschütteln beim "Guten Tag".

Haben Sie sich mal gedanklich neben so eine Begrüßungsszene gestellt und von der Seite zugesehen, wie sich zwei erwachsene Leute bei den Gliedmaßen packen, um sie zu schütteln? Es ist völlig irrsinnig. Man sagt, früher habe die Geste sichergestellt, nicht im nächsten Augenblick vom Dolch des Gegenübers durchstoßen zu werden - was bei einem Linkshänder schon mal nicht funktioniert (siehe die biblische Anekdote über Ehud). Und wofür brauchen wir das heute? Darüber hinaus kann das Handnehmen und -geben überaus peinlich und unangenehm sein (Schweißhände; eingecremte Hände, unabgetrocknete Hände). Außerdem ist es unhygienisch, wenn man gerade in die Hand geniest oder was-weiß-ich unaussprechliches damit getan hat, z.B. die Edelstahlstange an der Schwingtür zum Karstadt angefasst, wie schon hundert Leute zuvor.

Stellen Sie sich vor, ich gehe zum Bewerbungsgespräch und sage auf die ausgestreckte Hand des HR-Chefs, dass ich sie nicht nehme, weil es sich dabei um ein anachronistisches Ritual handelt, das sinnfrei und zudem unhygienisch ist. Ich hätte wissenschaftlich von allen Seiten recht, aber die Stelle bekomme ich nicht. Hilfe, ein Freak! Normalos akzeptieren höchstens Leute, die sich über die Selbstverständlichkeiten der Welt ironische Gedanken machen. Niemals jedoch jemand Konsequentes, der das Gedachte umsetzt.

Dabei stört mich als Aspie nicht so sehr die Sinnfreiheit vieler heute verlangter sozialer Interaktionen, sondern die Zufälligkeit, auf der ein großer Teil unserer heute existierenden Gesellschaft basiert. Nehmen wir ein Beispiel: Vielleicht haben Sie schon das Wort "Weltliteratur" gehört, das ist angeblich das, was Shakespeare, von Goethe oder Tolstoi geschrieben haben; ähnliches könnte man in der Musik von Bach und Beethoven sagen oder in der Malerei von da Vinci, Michelangelo und Rembrandt. Das sind unsere Standards.

Ich will mich gar nicht darüber auslassen, dass diese Standards nur einen Bruchteil der Weltgeschichte gelten und auch nur einem Bruchteil der Weltbevölkerung etwas bedeuten. Schlimmer: Die Existenz dieser Geister war zufällig. Sie hätten genausogut nicht leben oder nichts produzieren können, und dann säßen wir heute ohne gewisse Symphonien, Fausts und Giocondes da. Diese Werke mussten nicht notwendigerweise entstehen, das beweist die Geschichte, die sonst noch viel mehr ebenbürtige Werke vorzuweisen hätte. Hätten statt ihrer andere Geister gelebt, gäbe es heute andere Standards in der Musik, andere ehemalige Länder der Dichter und Denker, andere Attraktionen im Louvre.

Ist das nicht beängstigend, dass die ganze Geschichte dieser Welt, die uns anders vorzustellen wir enorme Schwierigkeiten haben, von der zufälligen Existenz und Handlung einzelner Personen abhängt? Der Aspie sagt ja und nimmt daher diese zufällig aufgebaute Welt für alles andere als notwendigerweise so existierend auf, ist bereit, die heutige ohne weiteres über Bord zu werfen, wenn sich eine bessere ergäbe.

Aber wenn wir uns schon dem Händeschütteln nicht entziehen können - welche Chance gibt es dann für tiefgreifendere Veränderungen?

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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