Dienstag, 9. Februar 2010

Das hässliche Gesicht der Durchschnittsfamilie

Rechnen Sie mal: 26 minus 7.

Leicht? Ja. Ich muss gar nicht rechnen, ich weiß das Ergebnis einfach durchs Hingucken.

Das dreizehnjährige Mädel neben mir zerbricht sich aber den Kopf. Sie ist eigentlich ein helles Ding, spricht schneller Deutsch als ich, versteht unterschwelligem Humor, lernt eine Seite Englischvokabeln ohne Schwierigkeiten - nur Mathe geht nicht.

Flashback
Das erinnert mich an eine weniger angenehme Situation mit ihrem Vater. Die Tochter begreife eben kein Mathe. Als sie 10 war, konnte sie schon keine einfachen Rechenaufgaben lösen, und nach seiner üblichen Reaktion ("Warum kannst Du das nicht?!") war er zu ihrem Mathelehrer gerannt und hatte den zur Rede gestellt. Was ihm einfalle, seiner Tochter die Mathe nicht beizubringen. Dass es natürlich leichter sei, den Begabten was zu vermitteln, der Beruf des Lehrers aber gerade darin bestehe, die Schwächeren nicht abzuhängen.

Der Lehrer meinte nur süffisant, ob der Vater die Probleme seiner Tochter erst jetzt in der vierten Klasse bemerke.

Nun ist das Mädel in der Siebten und noch nicht weiter. Eine Stunde habe ich mit ihr geübt, und ich glaube nicht, dass sie Mathe einfach nicht kann. Sie ist nur unkonzentriert.

Wir knien im Wohnzimmer vor dem Couchtisch. Kinderzimmer? Geht nicht, da sitzt gerade Mama mit der kleinen Schwester, die sich im Dunkeln fürchtet und einschlafen soll. Im Wohnzimmer aber fläzt außerdem noch die spätpubertäre große Schwester (ohne Abschluss aus der Schule), zieht sich einen Schießereifilm rein und glotzt mich manchmal mit großen Augen an, während ich für die Dreizehnjährige die Prozentrechnung filetiere. Der Vater ist nicht da. Es ist schon nach 10 Uhr abends. Vorher war keine Zeit.

Eigentlich ist mir zum Heulen.

Ohnmacht
Hier gehen gerade vor meinen Augen die Aussichten eines jungen Lebens zugrunde, dessen Potential nicht rechtzeitig gehoben, sondern verschüttet wurde. Und ich kann gar nichts dagegen tun.

Sicherlich, die Schule ist anders geworden. Ich habe vor den Lehrern noch Ehrfurcht gehabt, bin still gesessen, habe unter Schönschreiben gelitten. Habe strahlend Einser und heulend Dreier heimgebracht. Der Zeigestock kam zum Einsatz, auch Kreide und der Schlüsselbund flogen mal. Aber Kinder sind erstaunlich leidensfähig. Wenn sie überzeugt sind, es müsse eben so sein, dann können sie tatsächlich sitzen, lernen, pauken, verstehen. Konsequenz und Konzentration sind die Schlüsselworte, zumindest bei den Kleinen. Und die müssen nicht von den Kindern, sondern den Erwachsenen geschaffen werden.

Heute werden Kinder in der Schule nicht zum Lernen gezwungen. Es gibt kein "Arbeit und Vergnügen" mehr, kein anstrengen und belohnt werden. Bei Kindern heißt belehren auch erziehen, und Lehrer kümmern sich heute nicht um die Erziehung der Kinder.

Um so mehr sind die Eltern gefordert. Wenn die Schule keine konzentrierte, konsequente Lernatmosphäre schaffen kann, dann muss diese wenigstens zu Hause herrschen. Ungeordnete Blätter am Couchtisch, Fernsehen nebenbei, abwesende Eltern, ein ungeregelter Tagesablauf und fehlender Schlaf sind das Kontrastprogramm.

Maskiert
Vernachlässigung hat viele Gesichter. Heute hat mich wieder ein hässliches von ihnen angesehen, eines unter der Maske einer intakten Familie in einem sauberen Heim mit einem neuen Minivan mitten in der Großstadt.

Schlagwort: Verrückte Normalo-Welt

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